Mein See, mein Aspern, mein Block #seestadtaspern

Überblick

  • Moderne Stadtplanung umfasst weit mehr als der Entwurf einer Baustruktur. In der neuen Seestadt Aspern soll sich der Stadtteil den Bedürfnissen der Menschen anpassen und nicht andersrum.
  • Innerhalb weniger Jahre nordöstlich von Wien erbaut, wurde bei der Seestadt neben dem Raumkonzept auch das Mobilitätskonzept, die Arbeitsplatzbeschaffung und die soziale Belebung konzipiert.
  • Basierend auf einer breit angelegten Befragung eines Teams um den Soziologen Christoph Reinprecht wurden die Bedürfnisse und das Feedback der Seestädter*innen erhoben und den Stadtplaner*innen zur Verfügung gestellt.

Urbanität, Gemeinschaft und Vielfalt – der neue Stadtteil Seestadt Aspern wirbt mit einem attraktiven Leben am Stadtrand. Abgestimmt auf die Bedürfnisse der Bewohner*innen wurden im Stadtentwicklungsprojekt nicht nur Baustruktur, sondern auch Mobilitätskonzept, Arbeitsplatzbeschaffung und die soziale Belebung gleich mitgedacht. Doch woher kennen die Stadt Wien und das Stadtteilmanagement die Bedürfnisse der Menschen überhaupt? In seiner Studie „Besiedelungsmonitoring Seestadt Aspern“ agiert Christoph Reinprecht vom Institut für Soziologie als Vermittler und Feedbacksystem zwischen den Bewohner*innen und dem Planungsteam.

„Die Seestadt Aspern ist für Wien etwas Besonderes. Ein längerfristiges Stadtentwicklungsprojekt dieser Größe – und vor allem Tiefe – gab es so noch nicht“, erklärt Reinprecht. „Die meisten Projekte planen vorher nur die Bebauung, vielleicht noch Infrastruktur; für die Seestadt wurde eine ganzheitliche Herangehensweise gewählt, das ist auch international einzigartig.“ Innerhalb von 20 Jahren sollen im Nordosten Wiens 20.000 Menschen angesiedelt werden, der Spatenstich erfolgte im Juni 2013. Mittlerweile leben bereits mehr als 6.000 Menschen zwischen Essling und Hirschstetten und alle kommen mit unterschiedlichen Erwartungen und Bedürfnissen.

Die Baustruktur sollte sich dem Menschen anpassen und nicht andersrum.

Dies ist jedoch leichter gesagt als getan, denn „die Bedürfnisse der Bewohnerschaft sind weder homogen, noch so einfach zu erkennen“, erklärt der Soziologe. Im Auftrag der städtischen Wohnbauforschung MA 50 und der Aspern Development AG führte das Forschungsteam eine umfangreiche Online-Befragung unter den Bewohner*innen, Interviews mit Schlüsselakteur*innen aus den Bereichen Planung, Bauträgerschaft und Entwicklungsmanagement sowie Beobachtungen im öffentlichen Raum durch und klopfte die Sozialen Medien inhaltsanalytisch nach den Interessen und Wünschen der Seestädter*innen ab. Mit mehreren Websites, gratis Lastenrädern und der Seestadt-FLOTTE, bestehend aus elektrischen und konventionellen Leihfahrrädern, will die Seestadt die Bewohner*innen auf alternative Mobilitätspraktiken einschwören. Grünflächen, ein verkehrsberuhigter öffentlicher Raum, direkte Öffi-Anbindung sowie ein differenziertes Angebot an gefördertem und somit leistbarem Wohnraum bilden laut Reinprecht für viele Menschen entscheidende Anreize, um sich für eine Wohnung in der Seestadt zu interessieren.

Um der herrschenden Stadtflucht entgegenzuwirken, haben Bauträger und die Stadt Wien tief in die Trickkiste gegriffen.

In der Seestadt wird der Versuch unternommen, die Planungskonzepte und die diesen zugrundeliegenden normativen Vorstellungen der Stadt mit den Bedürfnissen der Bewohner*innenschaft in eine Balance zu bringen. „Das ist auf einigen Ebenen gelungen, auf anderen gibt es Klärungs- und Kommunikationsbedarf“, erklärt Reinprecht. Während seitens der Planer*innen durch entsprechende Mobilitätskonzepte und Mischbebauung eine vielfältige und nachhaltige Umgebung geschaffen werden soll, haben die frisch Gesiedelten eigene Vorstellungen. „Hier kommen wir ins Spiel“, so Reinprecht. „Das Erleben des Stadtteils hängt zum einen sehr stark von der jeweiligen Erwartungshaltung der Menschen ab, zum anderen spielt es eine große Rolle, in welchem Lebensabschnitt sich die Neuankömmlinge befinden“.

Das Binnenmobilitätskonzept der Seestadt hat zunächst völlig versagt.

Foto von einem Platz vor dem Ausgang einer U-Bahn Station, auf dem auch Fahrräder stehen.

© Flickr, Bekassine / CC BY-SA 2.0

Die Sozialstatistik der Bauträger besagt, dass die Seestadt eine Bandbreite der Mittelschicht abbildet. „Personen mit mittlerem Einkommen, einem etwas höheren Bildungsgrad und ein durchschnittlicher Migrationsanteil mit überdurchschnittlich vielen Menschen mit Herkunft aus alter und neuer EU – in der Seestadt wohnen vor allem relativ junge Menschen, mit und ohne Kinder“, erklärt Reinprecht. Gut angenommen werden daher Einrichtungen wie die Spielplätze, der See mit seinen Grünanlagen oder die Laufstrecke. Schwieriger erwies sich von Anfang an die Durchsetzung des Binnenmobilitätskonzepts mit E-Bikes, Lastenrädern und Carsharing. „Bei vielen Menschen spielt das eigene Auto eine große Rolle, die Seestadt ist jedoch auch aufgrund der bereits im Vorfeld gebauten U-Bahn-Linie auf die Integration alternativer Transportmittel konzipiert. Das führte schnell zur Frustration bei Menschen, die auf das Auto als primäres Verkehrsmittel zurückgreifen; sei es, weil sie in ihrem täglichen Weg zur Arbeit darauf angewiesen sind, wegen der Kinder oder aus Gründen der Freizeitgestaltung“, so Reinprecht.

...ein Balanceakt zwischen langfristiger Planung und offenem Konzept.

Natürlich konnten die Bedürfnisse der Seestädter*innen erst dann erforscht werden, als die ersten Bewohner*innen in der Seestadt niedergelassen waren. Zu diesem Zeitpunkt existierten bereits einige Angebote im Bereich von Nahversorgung, Gastronomie und Mobilität, um die Entwicklung einer positiven Beziehung zum Stadtteil zu begünstigen.  Für die weitere Gestaltung der Wohnumwelt galt es die spezifischen Bedürfnisse der verschiedenen Bevölkerungs- und Nutzer*innengruppen wie Kinder, Jugendliche, Eltern oder freizeitorientierte Menschen zu erkennen. Hier agierte das Team rund um Reinprecht als Feedbacksystem. Die Ergebnisse bildeten eine Grundlage für weitere Planungsmaßnahmen. „Trotz der Größe und des komplexen Charakters des Stadtteilprojekts hat das Planungsteam Möglichkeiten für Adaptierungen und Veränderungen eingeplant. Die Anliegen der neuen Bewohner*innen zu identifizieren und sichtbar zu machen, ist dennoch eine Herausforderung, da ja nicht alle Themen und Anliegen – von der Leistbarkeit des Wohnraums über die Freiraumnutzung bis zu Nachbarschaft und Gemeinschaftsräume – gleichermaßen Resonanz und Anerkennung finden. Dazu kommt ein divergierendes Zeitverständnis von Forschung, Planung und Politik.“ Als Resultat blieb dem Forschungsteam nur ein relativ kurzer Zeitraum von wenigen Monaten, um die Datenerhebung durchzuführen und die verschiedenen Forschungsschritte aufeinander abzustimmen und zu integrieren.

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„Die Seestadt, mit ihrem enormen Umfang und digitalen Visibilität wurde bei vielen Bewohner*innen Teil der Identität. Besonders Menschen, die den Stadtteil bewusst gewählt haben, identifizieren sich stark mit ihm“, erklärt der Soziologe. Wie auch der 15. Wiener Gemeindebezirk Rudolfsheim-Fünfhaus, der in der Online-Community oft auch liebevoll als „Rudolfscrime“ gefeiert wird und auf Twitter unter dem Hashtag #RH5H bekannt ist, ist die Seestadt online recht präsent. Mehr als hundert Facebookgruppen mit insgesamt mehreren tausend Mitgliedern machen die Forderungen, Bedürfnisse und Vorlieben der Bewohner*innen sichtbar – zumindest derer, die auf der Plattform aktiv sind. Und das sind viele. Mit über 3.000 Mitgliedern dürfte sich gut die Hälfte aller Neuankömmlinge in der Facebookgruppe „Seestadt Allerlei“ befinden.

Hundehaufen nicht entfernt, Tschick weggeworfen und sonstige Verunreinigung – diese Dinge haben ein großes Konfliktpotential unter den Seestädter*innen.

Wohnungsbörsen, Yoga- und Gärtner*innengruppen, „Seestadt Mamis“, „Que[e]rbau Seestadt“ und vor allem auch Gruppen zu den einzelnen Wohnbauten (einschließlich der Baugruppenprojekte) geben einen digitalen Einblick in das Leben im Stadtteil. Die Gruppe „Seestadt – Uncut“ verspricht in ihrer Beschreibung „brisante Themen, welche in anderen Gruppen ungern gesehen sind und sogar gelöscht werden“. So aufregend das auch klingt, so geht es in den ersten Postings um Kinderschminke, Trommelgruppen und einen gefundenen Wildvogel. Dennoch, mit dem Hashtag #smellslikeseestadt macht eine Nutzerin auf ominösen Geruch aufmerksam, der wohl schon öfter von der Bewohner*innenschaft vernommen wurde – eine Information, die auch für Stadtplaner*innen relevant ist. Neben einer größeren Präsenz von LGBTQI-Unterstützer*innen finden sich in der Gruppe aber auch Postings, die dem rechten Rand zuzuordnen sind.

Der See als umkämpfter Ort: Seestädter*innen proklamieren Heimrecht.

„Prinzipiell ist die Identifikation mit dem eigenen Stadtteil etwas Positives und trägt zur Lebensqualität bei; wenn dies jedoch in Ab- und Ausgrenzung umschlägt, dann sollten Maßnahmen, etwa im Bereich der Gemeinwesenarbeit, gesetzt werden“, erklärt der Soziologe. „Grenzziehungen zwischen „Wir“ und „den Anderen“ können sowohl innerhalb der Seestadt, also zwischen Bauprojekten und Nachbarschaften, als auch nach außen hin beobachtet werden. In Nachbarschaften entwickeln sich stets Mechanismen der sozialen Kontrolle. In der Seestadt findet diese häufig über Online-Plattformen statt, etwa wenn sich Bewohner*innen gegen Graffiti und die Nutzung des Sees durch ortsfremde Personen, etwa Jugendliche aus der Umgebung, zusammenschließen.“ Das Stadtteilmanagement versucht dann, über Veranstaltungen und gemeinsame Aktionen Spannungen abzubauen.

Reinprecht und sein Team führen die Wünsche und Bedürfnisse nicht nur zu den Auftraggebenden zurück, sondern auch zu den Seestädter*innen selber. Hier war es schwierig, die unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bringen: Während die Bevölkerung ein unmittelbares Interesse hat, die Ergebnisse der Forschung möglichst zeitnah zu erfahren, zeigen sich Bauträger, Besiedelungsmanagement und Stadtplanung in Bezug auf die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen eher zurückhaltend. „Allen Beteiligten gerecht zu werden, ist eine Herausforderung“, merkt Reinprecht an. Mehrere Monate nach der Erhebung wurden die Ergebnisse schlussendlich in einem öffentlichen Workshop mit den Bewohner*innen und Vertreter*innen der Stadt diskutiert. „Wir hatten ein recht hohes Involvement der Bevölkerung und dementsprechend auch ein großes Interesse an den Ergebnissen“, schloss der Wissenschafter. Die Forschung wird durch vertiefende Fallanalysen weitergeführt; im Zusammenhang mit der nächsten Besiedelungsphase ab 2018 ist eine zweite Befragungswelle geplant. Die Sicht der Seestädter Bevölkerung und das Wechselspiel mit den Entwickler*innen sollen dann eine noch größere Rolle spielen. (il)

Hintergrundinformationen

  • Die Seestadt entsteht auf einem Areal von 2,4 Millionen m².
  • Fast 50 Prozent der Grundfläche sind qualitätsvolle öffentliche Frei- und Grünräume.
  • Die Seestadt ist eines der größten Stadtentwicklungsprojekte Europas.
  • Das Gesamtinvestitionsvolumen beträgt rund 5 Mrd. Euro.
  • Insgesamt sollen innerhalb von 20 Jahren rund 20.000 Menschen in der Seestadt angesiedelt werden.
  • Rund 82 Prozent der Seestädter*innen, die in der ersten Besiedlungsphase von Herbst 2014 bis Herbst 2015 in den neuen Stadtteil im Wiener Gemeindebezirk Donaustadt zogen, sind unter 45 Jahre alt.
  • Laut Befragung wohnen rund 82 Prozent der Bewohner*innen gerne in der Seestadt.

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: Besiedelungsmonitoring Seestadt Aspern 2015
  • Zeitraum: April 2015–Dezember 2015
  • Beteiligte und Partner*innen: Christoph Reinprecht, Cornelia Dlabaja - Universität Wien  | Johannes Kellner, Christoph Stoik - Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit/FH Campus Wien | Katharina Kirsch-Soriano da Silva - Stadtteilmanagement Seestadt Aspern
  • Institut: Institut für Soziologie
  • Finanzierung: Magistratsabteilung 50 (Wohnbauforschung) | wien3420 Aspern Development AG