Ältere Hände tippen auf einem Laptop

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Mit Spiel, Spaß und (Ent-)Spannung

Überblick

  • Viele ältere Arbeitnehmer*innen arbeiten sitzend vor dem Bildschirm. In Kombination mit wenig Bewegung, Stress und falscher Ernährung können so Beschwerden oder ernsthafte Krankheiten entstehen.
  • Die Plattform Wellbeing soll Wohlbefinden an den Arbeitsplatz bringen: Mit einem 3D-Sensor wird das Verhalten der Nutzer*innen ermittelt. Die Arbeitnehmer*innen erhalten individuell auf sie abgestimmte Gesundheitsempfehlungen gepaart mit sozialen Spielen.
  • Die Zielgruppe des Projekts Wellbeing ist sehr divers: ältere Menschen (55 plus) in sitzender Tätigkeit; u.a. wurden Sekretär*innen, Techniker*innen, Rechtsanwält*innen und Bankangestellte in Österreich, Rumänien und den Niederlanden befragt.

„Hallo Thomas. Durch einen Klick auf den Button gelangen Sie direkt zur heutigen Übung. Ihr Fokus: Stressbewältigung.“ So oder so ähnlich begann der Arbeitstag von rund 132 Testpersonen in Österreich, Rumänien und den Niederlanden, die über mehrere Monate die Plattform Wellbeing nutzten. Was die Teilnehmer*innen miteinander verband: Sie arbeiten primär am Bildschirm, sind 55 Jahre oder älter und damit anfällig für physische und psychische Beschwerden durch nicht ergonomisch gestaltete Arbeitsplätze. Soziolog*innen der Universität Wien (Franz Kolland, Anna Wanka, Sophie Psihoda, Vera Gallistl) haben die Entwicklung, Testphase und Evaluierung der Plattform im Rahmen eines AAL-Joint Programmes der EU wissenschaftlich begleitet.

Kurz nach der Mittagspause macht sich der Rücken bemerkbar, die Konzentration lässt nach, die Augen schmerzen. Doch das Arbeitspensum ist noch nicht geschafft – Stress setzt ein. Das kennen viele Menschen, die von Berufs wegen sitzend vor dem Bildschirm arbeiten, besonders betroffen sind jedoch ältere Arbeitnehmer*innen. „Im Alter nimmt die kognitive Leistungsfähigkeit ab, gleichzeitig steigt die Anfälligkeit für Stress. Nicht selten leiden ältere Erwerbstätige unter physischen und psychischen Beschwerden, ernsthafte Krankheiten können die Folge sein“, erklärt Wellbeing-Projektleiter Franz Kolland.

Fast die Hälfte der befragten Bildschirmarbeiter*innen gab an, dass sie in der Arbeit permanent unter Stress stehen und nicht über aktive Strategien verfügen, um damit umzugehen.

Die webbasierte Plattform Wellbeing soll Abhilfe schaffen: Mittels 3D-Sensor und Kamera wird das Verhalten am Arbeitsplatz ermittelt und automatisch ausgewertet. In einem weiteren Schritt schlägt das System individuell abgestimmte Übungen vor und informiert in vier Modulen über Bewegung, Arbeitsplatzergonomie, Stressbewältigung und ausgewogene Ernährung. „Spielerisch werden die Nutzer*innen aufgefordert, etwas für ihr Wohlbefinden zu tun. Das System kann u.a. Rückmeldung über die aktuelle Sitzhaltung oder den Wasserkonsum geben und anzeigen, ob die vorgegebene Sportübung korrekt ausgeführt wird“, ergänzt Alterssoziologin und Projektmitarbeiterin Vera Gallistl: „Besonders wichtig ist, dass es Spaß macht. Durch die Kombination mit sozialen Spielen wird die Bereitschaft, die Plattform zu nutzen, erhöht.“

Im Vordergrund des internationalen Forschungsprojekts, an dem Partner*innen aus Österreich, Rumänien, Deutschland, Spanien und den Niederlanden zusammenarbeiteten, stand die Entwicklung einer technisch unterstützten Gesundheitsförderung. Das vierköpfige Team der Universität Wien war vor allem für die anfängliche Bedarfserhebung in den Unternehmen und die Evaluierung nach der Testphase zuständig.

Das Gesundheitsempfinden ist gestiegen, das Gesundheitsverhalten nicht merklich.

Was kam bei der Evaluierung heraus? Die Testpersonen verhielten sich nicht unbedingt gesundheitsfördernder, fühlten sich aber gesünder. „Das Gesundheitsempfinden ist gestiegen, das Gesundheitsverhalten nicht merklich. Dadurch, dass sich die Personen mehr mit dem Thema Gesundheit am Arbeitsplatz auseinandersetzten, hat sich auch ihr gesundheitliches Wohlbefinden verändert“, berichtet Vera Gallistl. „Gut angenommen wurde das Modul Bewegung. Die Anzahl der Sportübungen am Arbeitsplatz ist leicht gestiegen“, erklären die Soziolog*innen. Überrascht hat sie das wenig: „Die interaktiven Bewegungselemente funktionieren unmittelbar. Die Ernährungstipps hingegen sind stark kognitiv ausgerichtet, da konnten nur wenige Veränderungen festgestellt werden.“

Soziales Biotop Arbeitsplatz: Testpersonen wurden zu „Ansprechpartner*innen für Gesundheitsfragen“

Die Plattform hatte einen direkten Einfluss auf das Gesundheitsempfinden der Testpersonen, auf Umwegen hat sich aber auch das soziale Biotop des Arbeitsplatzes verändert: „Wir konnten schon vorab wahrnehmen, dass die Generationenzusammensetzung den Teilnehmer*innen ein Anliegen ist. Nach der Testphase berichteten viele der älteren Arbeitnehmer*innen, dass sie zu Ansprechpartner*innen für Gesundheitsfragen geworden sind und es verstärkt zu einer Auseinandersetzung mit jüngeren Kolleg*innen kam.“

Es herrschte wenig Bereitschaft, schlechte Arbeitsbedingungen als ein gesellschaftliches Problem zu sehen, das Strukturveränderungen braucht.

Die Zusammenarbeit mit TechnikerInnen und Unternehmer*innen ist Grundvoraussetzung für die Beantragung eines AAL-Joint Programmes. Rückblickend bedeutet das für Wissenschafter*innen zweierlei: Vorteile durch den engen Praxisbezug, aber auch Schwierigkeiten im Forschungsprozess. „Es trafen regelrechte Blackboxes aufeinander – Unternehmen und WissenschafterInnen haben andere Herangehensweisen, Regeln und Logiken. Als Soziolog*innen ging es uns weniger um das Produkt, mehr um das große Ganze. Die Fragen nach gesellschaftlichen Problemen und nachhaltigen Strukturänderungen wurden in diesem Projekt nur teilweise thematisiert.“

14 Personen sitzen in einem Seminarraum mit Laptops und Unterlagen um einen Tisch, eine Person präsentiert stehend an einem Flatscreen

Unternehmen, Technik und Soziologie trafen in dem Projekt Wellbeing aufeinander. Im Bild: Eine Besprechung des internationalen Teams. © WELLBEING

Die Kommunikation mit den Projektpartnern war ein „Lernfeld“.

Zu Beginn gab es keine gemeinsamen Begriffe: Die Soziolog*innen verstanden die technischen Ausdrücke nicht ausreichend, soziologische Termini waren den Projektpartner*innen fremd, ergänzt Vera Gallistl: „Wenn es um die Zielgruppe ging, bürgerte sich innerhalb der Projektkommunikation rasch ‚the elderly‘ ein, eine Bezeichnung, die wir in der Altersforschung schon lange nicht mehr verwenden. Es brauchte lange Gespräche und informelle Abendessen, um ein Bewusstsein für diskriminierende Sprache und die Heterogenität der Zielgruppe zu schaffen.“

Unternehmen sind normalerweise hermetisch abgeschlossen. Als Forscher*innen können wir nicht ohne weiteres darin eindringen und Daten erheben, obwohl genau diese Daten so wichtig sind – die Arbeit ist schließlich ein zentraler Bereich des Lebens.

Das stetige Ausverhandeln mit den Projektpartner*innen hat sich aber gelohnt – da sind sich die Soziolog*innen einig. „Durch die enge Zusammenarbeit mit den Unternehmen konnten wir anwendungsorientiertes Wissen für Anschlussforschungen generieren. Natürlich haben wir zunächst relevante Aspekte für die Plattform abgefragt, aber konnten darüber auch Themen wie etwa Altersdiskriminierung ansprechen. Wir haben nun standardisierte Daten von 1852 älteren Mitarbeiter*innen in Österreich, die gab es vorher nicht“, erklärt Franz Kolland.

Ein weiterer Vorteil der unternehmerischen Zusammenarbeit: Das Wissen der Soziolog*innen landet direkt dort, wo es etwas verändern kann. „Durch den Forschungsprozess und die gemeinsame Auseinandersetzung wurden die Projektpartner*innen dafür sensibilisiert, dass ältere Arbeitnehmer*innen spezifische Bedürfnisse haben und es gezielte Maßnahmen im Unternehmen braucht. Das war so im Projekt nicht intendiert, aber wir freuen uns über die ‚Umwegrentabilität‘.“

To be continued

Wellbeing stieß bei den Nutzer*innen auf Begeisterung. Rund 80 Prozent der befragten Personen gaben an, dass sie die Plattform gerne weiter nutzen würden. Doch was braucht ein Testpilot zu Forschungszwecken, ehe er markttauglich wird? Für Wellbeing steht die Zukunft noch in den Sternen: „Nach dem Projekt gab es einen Pitching Day. Dort entstand die Idee, Wellbeing aus Kostengründen als Abonnement anzubieten. Arbeitnehmer*innen würden die Plattform einen Monat lang nutzen und bekämen am Ende ein auf sie abgestimmtes Ergonomieprofil zugeschickt“, berichtet Vera Gallistl. Ob es so weit kommt? „Wir werden sehen.“ (hm)

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: „Optimizing the Workplace of ELderly Laborers: BE IN Good health!“ (WELLBEING)
  • Zeitraum: 2014–2017
  • Beteiligte und Partner*innen: Franz Kolland, Anna Wanka, Sophie Psihoda, Vera Gallistl
  • Institut: Institut für Soziologie
  • Finanzierung: AAL-Joint Programme (EU)
  • Kooperationen: CogVis (AT, Koordinator), TU Wien, Computer Vision Lab (AT), AIMC (AT), FitBase (DE), Smart Homes (NL), INTRAROM (RO), ISOIN (ES)