20 Jahre Fakultät für Sozialwissenschaften:
Die Sozialwissenschaften denken mit der Zeit – und manchmal müssen sie auch gegen eine Zeit denken.
Gleichzeitig mit der Gründung der Fakultät für Sozialwissenschaften im Jahr 2004 übernahm die Physikerin und Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt die Leitung des neu gegründeten heutigen Instituts für Wissenschafts- und Technikforschung (bis 2012: Institut für Wissenschaftsforschung). Ab 2012 trat Felt als Vizedekanin für Forschung und Nachwuchsförderung in die Fakultätsleitung ein, von 2014 bis 2018 war sie Dekanin. Im zweiten Teil unserer Interview-Reihe zum 20-jährigen Bestehen der Fakultät für Sozialwissenschaften berichtet sie, warum sie damals eine Qualitätsdiskussion anstieß und die Nachwuchsförderung, den Austausch mit den Studierenden sowie das Sichtbarmachen sozialwissenschaftlicher Forschung ganz oben auf ihre Agenda setzte.
Frau Felt, wie haben Sie vor Ihrer Zeit als Dekanin als Institutsvorständin die neu gegründete Fakultät erlebt?
Vor 2004 waren wir als Institut mit der Wissenschaftstheorie zusammen. Als es zu den Umstrukturierungen kam, war klar, dass die Wissenschaftstheorie zu einer anderen Fakultät möchte, um in die Philosophie integriert zu werden. Mir war wichtig, als Institut eine eigenständige Einheit zu bleiben und in ein Umfeld zu kommen, das versteht, was qualitative Sozialforschung braucht. So ist unser Institut in dieser Form gleichzeitig mit der Gründung der Fakultät entstanden. Die Gründung der Fakultät habe ich als einen wichtigen Schritt für eine klare Ausrichtung der Sozialwissenschaften gesehen, denn das war an der Fakultät davor aufgrund der starken Durchmischung sehr unterschiedlicher Fächer kaum möglich.
War es schwierig, sich gemeinsam auszurichten und eine Identität zu finden?
Es hat natürlich gedauert, eine gemeinsame Identität zu finden und diese nach und nach zu bilden. Zunächst ging es um die Frage, was die Fächer der Fakultät zusammenhält, was sie gemeinsam haben – und das war nicht so offensichtlich am Anfang. Es hat eine Weile gebraucht, das herauszuarbeiten, vor allem auch, weil sich gerade in den ersten zehn Jahren gleichzeitig so vieles in der Universität und in der Beziehung zur Gesellschaft verändert hat.
Welche Veränderungen waren das?
Das waren strukturelle Veränderungen – es ist viel mehr Entscheidungsmacht zum Dekan geflossen (mehr dazu im Interview mit Rudolf Richter, Anm. d. Red.). Zudem gab es einen starken Generationenwechsel bei den Professor*innen und es hat auch eine starke Internationalisierung stattgefunden. Die Identitätsfindung war somit ein vielschichtiger Suchprozess. Eine Suche nach dem, was wir sind, als Fakultät, als Gemeinschaft. Wir mussten erst zusammenfinden, auch herausfinden, was tun „die anderen“, inwiefern sind sie „anders“ und wo gibt es Ähnlichkeiten. Das braucht Zeit.
Ab 2012 waren Sie Vizedekanin für Forschung und Nachwuchsförderung und ab 2014 Dekanin: was waren Schwerpunkte Ihrer Arbeit?
Ich habe den Nachwuchs stärker auf die Agenda gesetzt und eine Qualitätsdiskussion angestoßen. Wir waren zwar immer wieder gefordert, unsere Qualität durch Zahlen zu belegen, also etwa zu schauen, wie vielen Artikel in Top-Zeitschriften wir haben oder wo wir in Rankings liegen. Aber für mich war klar, dass das nicht reicht. Es gab viel Diskussion darüber, was wir unter Qualität verstehen. Wir haben gesehen, dass wir an der Fakultät ganz unterschiedliche Formen des Wissens produzieren. Es war jedoch klar, dass es immer ein Qualitätskriterium geben muss, dass z.B. natürlich auch ein Film ein Wissensprodukt ist und es gleichzeitig wichtig ist, sagen zu können, was einen guten von einem nicht so guten Film unterscheidet. Gemeinsam ein Qualitätsverständnis zu entwickeln das nicht nur auf Zahlen fußt, war gar nicht so einfach.
Hat die Qualitätsdiskussion auch beim Nachwuchs eine Rolle gespielt?
Nachwuchs war für mich ein wichtiges Thema, weil ein Schlüssel für eine gute Qualität in der Forschung darin liegt, den Menschen, die wir ausbilden, einen hohen Anspruch an Qualität zu vermitteln und eine gute Betreuung zu geben. In den vier Jahren meiner Zeit als Dekanin haben wir daher begonnen, eine Professionalisierung des Doktorats voranzutreiben. Es hat mehr Konturen bekommen. Und: Da es immer mehr österreichische und europäische Forschungsprojekte an der Fakultät gab, musste wir nicht nur auch eine Qualitätsdiskussion führen, sondern auch reflektieren, was mit dem wissenschaftlichen Nachwuchs, der eine wesentliche Rolle in einem erfolgreichen Projekt spielt, nach Projektende passiert. Die Gruppe der Projektmitarbeiter*innen ist in dieser Zeit enorm angewachsen.
War die Qualitätsdiskussion sehr hitzig?
Ich würde nicht sagen hitzig, aber sie war von Spannungen durchzogen. Mir war wichtig, dass wir diese Diskussion führen, ohne mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, der die Qualitätskriterien vielleicht nicht so klar erfüllt. Es ging ja nicht darum, sozusagen die „Guten“ von den weniger Guten zu trennen. Eine Fakultät muss immer ein breites Spektrum von Personen mit unterschiedlichen Stärken zulassen. Es ging darum, ein gemeinsames Ziel zu finden, und gleichzeitig unterschiedliche Profile zuzulassen und die verschiedenen Stärken wertzuschätzen.
Was war da Ihr Ansatz?
Mein Zugang war, dass es um so etwas wie ein breites Portfolio an Leistungen geht. Dass ein*e gute*r Forscher*in die gesamte Klaviatur beherrschen muss – von den sehr kompetitiven Forschungsfinanzierungen und Publikationen bis zu diversen Formen des Engagements mit der Gesellschaft und mehr anwendungsnaher Forschung. Dabei ist immer auch die Verknüpfung mit Lehre mitzudenken. Gleichzeitig wird aber nicht immer jede*r die gesamte Klaviatur in gleichem Ausmaß abdecken. Das ist mir bis heute noch sehr wichtig.
Welche Schwerpunkte haben Sie noch gesetzt?
Mir war aufgefallen, dass die Studierenden das Gefühl dafür verloren hatten, was an der Fakultät passiert und dass sie oft auch nicht wussten, wo es Interventionsmöglichkeiten für sie gibt bzw. wo sie sich am besten einbringen können. Ich wollte sie wieder mehr an Bord holen, ihnen vermitteln, warum wir so handeln, wie wir handeln und sie besser unterstützen. Daher habe ich vor jeder Sitzung der Fakultätskonferenz einen Jour Fixe mit den Studierenden eingeführt, in dem wir die Tagesordnung durchgegangen sind und ich Hintergründe erklärt habe.
Welche Herausforderungen als Dekanin sind Ihnen besonders in Erinnerung?
Die Universität Wien wollte sich in dieser Zeit neu positionieren und sich stärker international ausrichten. Da ging es natürlich auch um die Frage, welchen Platz die Sozialwissenschaften in dem Ganzen einnehmen. Ich habe manchmal gesagt: „Wir wollen nicht die Schmuddelkinder der Uni sein“. Denn typisch für viele Fächer unserer Fakultät war eine große Anzahl an Studierenden und ein hoher Anteil an externen Lektor*innen - und das wurde immer mit der Überschrift „Problemfall“ diskutiert. Wir haben an unserer Position innerhalb der Universität Schritt für Schritt verbessert und klar gemacht, warum die Sozialwissenschaften eine wesentliche Rolle haben.
Was hat Sie noch gefordert?
Na ja, natürlich der ganz normale universitäre Alltag, also die Tatsache, dass die Universität immer an Ressourcenknappheit leidet. Auch die Befristung der Arbeitsverträge hat zunehmend für Unruhe gesorgt. Ja, es gab gewisse „Workarounds“ damit umzugehen, aber die waren auch keine sehr befriedigende Lösung. Insgesamt war die Arbeitsvertragsthematik für die Betroffenen mit viel Unsicherheit verbunden. Was auch eine Herausforderung war, war die Tatsache, dass die Sichtbarkeit der Sozialwissenschaften und ihrer Leistungen nach außen nicht besonders groß war.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Daraus ist die Idee für die Societal Impact Plattform entstanden, die es seit Anfang 2018 gibt. Es gab damals bereits ein Universität Wien-weites Third Mission-Projekt (Third Mission als Auftrag, Wissenschaft mit der und für die Gesellschaft zu betreiben. Anm. d. Red.). Aber meine Idee war, etwas Spezifisches für die Sozialwissenschaften zu machen und zu zeigen, dass das, was als Interaktion mit der Gesellschaft verstanden wird, in den Sozialwissenschaften nicht erst nach der Forschung stattfindet, sondern bereits während der Forschung. Dass vieles, natürlich nicht alles, unserer Forschung schon ein Stückchen eine Intervention ist in die Welt. Mir war wichtig, die Prozesse des wissenschaftlichen Arbeitens zu zeigen, sichtbar zu machen, dass durch sozialwissenschaftliche Forschung Begegnungs- und Impactmöglichkeiten entstehen. Wir konnten für diese Plattform Mittel vom Rektorat akquirieren.
Warum ist es so wichtig, den Prozess der sozialwissenschaftlichen Arbeit sichtbar zu machen?
Die Sozialwissenschaften leiden meiner Meinung nach darunter, dass viele Menschen glauben, sie könnten auch ohne spezielles Fachwissen sozialwissenschaftlich argumentieren. Ich bin immer wieder dem Vorurteil begegnet, dass Sozialwissenschafter*innen einfach nur eine verquere Sprache anwenden, während die Ergebnisse eigentlich offensichtlich wären. Darum ist es so wichtig, nicht nur die Ergebnisse, sondern den Prozess von sozialwissenschaftlicher Forschung transparenter zu machen. Nur so wird klar, was für eine anspruchsvolle und aufwendige Arbeit es ist, soziale Phänomene systematisch zu erfassen - und dass dieser Prozess etwas ganz anderes ist als bloße Intuition oder Alltagserfahrung.
Worin liegt denn der gesellschaftliche Auftrag der Sozialwissenschaften?
Die Gesellschaft hat sich zunehmend in Richtung Innovationsgesellschaft entwickelt. Besser gesagt: sie treibt ihre Entwicklung stark durch die technologischen Neuerungen voran, die sie ja selbst hervorbringt. Die Sozialwissenschaften haben für mich klar den Auftrag, diese Strukturveränderungen zu begleiten, zu beschreiben, zu erklären, zu analysieren und dadurch auch Handlungsmöglichkeiten zu schaffen für Verbesserungen und vor allem für mehr Inklusion. Sie haben also die Aufgabe, gesellschaftliche Dynamiken systematisch aufzuarbeiten und herauszuarbeiten, worin Mechanismen bestehen könnten, wie in Bestehendes interveniert werden kann, damit niemand zurückgelassen wird. All das zu kommunizieren und begreifbar zu machen, aber auch zum gesellschaftspolitischen Diskurs beizutragen. Das ist der Auftrag. Gleichzeitig ist es wesentlich die Grenze zur Politik aufrecht zu erhalten.
Wie meinen Sie das?
Während der Corona-Krise ist deutlich geworden, dass die Wissenschaft zwar sehr viel Input liefern kann für politisches Handeln, aber dass es natürlich die Politik ist, die verschiedene Interessen ausbalancieren und Entscheidungen treffen muss. Nach Corona hieß es seitens der Politik: „Wir haben zu viel auf die Expert*innen gehört“. Für mich klang das wie die Selbstausstellung eines negativen Zeugnisses, weil es bedeutet, dass die Politik nicht in der Lage war, aus den vorliegenden Informationen eine politische Positionierung zu entwickeln, Entscheidungen zu treffen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Daher ist es gerade für die Sozialwissenschaften wichtig, eine klare Grenze zu haben zwischen dem, was sie als Analyse liefern können und dem, was das in weiterer Folge für das politische Handeln bedeutet. Ja, für eine Universität geht es durchaus darum, der Politik relevantes Wissen für politische Entscheidungen zu liefern. Wir liefern aber nicht die Entscheidungen an sich.
Wie wichtig ist Wissenschaftskommunikation?
Die sehe ich als extrem wichtig an. Im Grunde weiß man in der Gesellschaft sehr wenig darüber, wie Wissenschaft funktioniert. Gerade was die Sozialwissenschaften betrifft, die ja in der Schule quasi gar nicht vorkommen, während die Naturwissenschaften mit z.B. Physik und Chemie dort durchaus ihren Platz haben. Aber auch da wird alles sehr verkürzt dargestellt. Daher glaube ich, dass das gesellschaftliche Verständnis von Naturwissenschaften und die tatsächliche naturwissenschaftliche Arbeit ein Stück weit auseinanderdriften. Und: Gerade in den Naturwissenschaften wird in der Öffentlichkeit wenig darüber kommuniziert, welche Unsicherheiten und Grenzen naturwissenschaftliche Forschung natürlich auch hat, wie ein Forschungsalltag aussieht. Meist wird nur das Ergebnis kommuniziert. Der Rest wird weggelassen, wodurch das Ganze auch nicht mehr hinterfragbar ist und auch kein Verständnis für diese Arbeit existiert. Das gilt auch für die Sozialwissenschaften. Bei diesen ist es aber in der Kommunikation oft das Hinterfragen der Ergebnisse schon inkludiert, was oft als Schwäche interpretiert wird. Ich denke, es ist ein Fehler, dass es die Sozialwissenschaften nicht bereits in der Schule gibt. Es wäre so wichtig, schon sehr früh darüber nachzudenken, wie man Gesellschaft verstehen kann und auch, wie man Wissenschaft über die Gesellschaft betreiben kann. Damit wir wegkommen von naiven Vorstellungen, wie etwa, dass die Sozialwissenschaften einfach Hausverstand wären.
Wo sehen Sie das Potenzial der Sozialwissenschaften für eine positive Entwicklung unserer Gesellschaft?
In den Sozialwissenschaften geht es darum, Entwicklungen zu begleiten, sie verstehbar und sichtbar zu machen, Entwicklungen kritisch zu durchleuchten und sich zu fragen, was tut das mit den verschiedenen Teilen in unserer Gesellschaft. Wer wird ein- und wer ausgeschlossen. Welche Lebensformen werden bevorzugt und welche benachteiligt. Diese Benachteiligungen passieren ja ständig. Es braucht viel Arbeit, Investment und Wissen, um eine Gesellschaft positiv am Leben zu halten – und das darf wissenschaftlich begleitet werden. In den Sozialwissenschaften geht es stark darum, mit der Zeit, aber natürlich auch manchmal gegen eine Zeit zu denken. Veränderungen nicht einfach nur zu begleiten, sondern auch kritisch-reflexive Fragen zu stellen, auch unbequeme Fragen zu stellen und auch etwas in Frage zu stellen. Genau dafür ist die Universität ein unglaublich wichtiger Raum und genau darin sehe ich auch das Potenzial der Sozialwissenschaften für unsere Gesellschaft.
Was wünschen Sie der Fakultät zum Jubiläum?
Der Fakultät wünsche ich, dass es gut gelingt, unsere Begeisterung für die und den Wert der Sozialwissenschaften auch an die nächsten Generationen weiterzugeben und in weitere Gesellschaftskreise hinauszutragen.
(kh)