Rudolf Richter vor verschwommenem Hintergrund

© Katja Horninger

20 Jahre Fakultät für Sozialwissenschaften:

Eine Zeit voller Veränderungen

Mit der Einführung eines neuen Universitätsgesetzes im Jahr 2004 und der daraus folgenden Neuorganisation der Fakultäten an der Universität Wien kam es zur Gründung der Fakultät für Sozialwissenschaften. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens dieser Fakultät blicken die ehemaligen Dekan*innen in einer neuen Reihe der Societal Impact Plattform auf ihr Wirken zurück. Den Anfang macht der Soziologe Rudolf Richter, der von Oktober 2004 bis September 2014 als Dekan fungierte. Richter erzählt im Interview von einer Zeit voller Veränderungen, Umbrüchen und neuen Chancen und warum Demut in der Wissenschaft wichtig ist.

Herr Richter, Sie waren Gründungsdekan der neuen Fakultät für Sozialwissenschaften. Was hat sich durch die Gründung alles verändert?

Das Universitätsgesetz (UG 2002), das 2004 eingeführt wurde, hat Autonomie und eine ungewohnt neue Entscheidungs- und Organisationsstruktur zu den Universitäten gebracht hat. Erstmals konnten die Universitäten über Personal und Budget eigenständig entscheiden.

Wo genau an der Universität lag ab 2004 die Entscheidungsmacht?

Davor war z.B. bei Entscheidungen um Berufungen das Ministerium zuständig. Ab 2004 waren zwei Ebenen bedeutsam: das Rektorat als oberste Entscheidungsinstanz und die Organisationseinheit, nämlich die Fakultäten als zweite Entscheidungsebene. Die Anzahl der Fakultäten hat sich verdoppelt, während die Institutsleitungen ihre Entscheidungsmacht verloren haben. Zudem konnten die Institute mit dem neuen Gesetz relativ leicht durch ein inneruniversitäres Prozedere verändert werden. Die Universität konnte jetzt entscheiden, welche Institute es gibt.

Wie wurde diese Entmachtung der Institute aufgenommen?

Das sorgte für massenhaft Konflikte. Die Struktur war nun eine völlig andere. Die „Partizipationsuniversität“ der 1970er Jahre war weg. Jetzt hatte der Rektor Budget- und Personalhoheit. Auf der zweiten Ebene lag die Macht bei den Dekan*innen bzw. Fakultäten. Zudem sollte die Universität in eine Forschungsuniversität transformiert werden. Forschung an der Universität erhielt einen neuen, größeren Stellenwert. Diese Umstrukturierung war ein gewaltiger Eingriff. Da war es schon gut, dass Rektor Winckler eine starke Führungspersönlichkeit war und sich diesen Herausforderungen gestellt hat.

Gab es auch positive Reaktionen?

Ja, vor allem bei forschungsintensiven Professor*innen. Die Hauptaufgabe von mir war es, ein Einheitsbewusstsein der Fakultät zu schaffen und die Institutsleitungen in der Fakultät zu integrieren. Vor 2004 haben die Institute autonom agiert und wenig kooperiert. Nun gab es Institutsvorstandsbesprechungen mit dem Dekan. Es wurde eine gemeinsame Fakultätsstrategie erarbeitet. Die Uni wurde Richtung Forschungsuniversität ausgerichtet und die Institute mussten sich neu orientieren. Schwerpunktsetzungen, Fokus auf Publikationen in peer reviewed journals sind Beispiele dafür. Damit wurde auch der internationale Bezug wichtiger. Da gab es natürlich auch Kritik, dass die Universität jetzt nur mehr auf die Forschung und weniger auf die Lehre fokussiert würde. Besonders für Institute mit hoher Studierendenzahl war dies natürlich eine bedeutende Verschiebung der Arbeitsschwerpunkte.

Welche Chancen haben diese Veränderungen mit sich gebracht?

Für Nachwuchswissenschafter*innen gab es nun Möglichkeiten, an der Universität beruflich Fuß zu fassen. Davor gab es kaum freie Jobs, da es ab etwa Mitte der 1980er Jahre die Pragmatisierung (öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis, bei dem für den Arbeitgeber eine ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses ausgeschlossen ist – Anm. der Red.) unabhängig von einer Habilitation gab. Man kann sagen, dass es rund fünfzehn Jahre in unseren Fächern kaum Möglichkeiten gab, an der Universität Fuß zu fassen.

Inwiefern?

Vor 2004 war die Uni ja praktisch eine nachgelagerte Dienststelle des Ministeriums. Forschungsgelder und damit auch Stellen für Forschungsprojekte musste das Ministerium bewilligen. Dort hieß es meist: „Nein. Wir haben kein Geld.“ Ab 2004 konnten Nachwuchswissenschafter*innen an über Drittmittel finanzierten Forschungsprojekten mitarbeiten, die an der Universität etabliert und verwaltet werden konnten. Neubesetzungen von Professuren brachten auch neuen Schwung in die Fakultät.

Wie wurde die neue Forschungsorientierung von den Wissenschafter*innen aufgenommen?

Für manche war es in gewisser Form befremdlich, dass die Belastungen in der Lehre nicht mehr so im Mittelpunkt standen. Es war nicht so, dass vor 2004 von den Wissenschafter*innen nicht geforscht worden wäre. In den Sozialwissenschaften war aber die Forschung oft in außeruniversitäre Vereine verlagert. Es gab keine messbaren Kriterien und es gab keine Kontrollinstanzen. Wenn jemand nichts veröffentlicht hat, blieb das weitgehend ohne Konsequenzen und die Überlastung mit hohen Studierendenzahlen an der Massenuniversität diente oft als akzeptiertes Argument für weniger Forschungsleistungen. Die Aufgabe der Fakultäts- und der Universitätsleitung bestand also in dem Spagat, einerseits die unleugbare Überlastung durch Studierende und quantitativ unzureichendes Lehrpersonal mit der neu propagierten Forschungsorientierung zu verbinden. Ab 2004 änderte sich die Personalstruktur durch Forschungsstellen mit neuen Professuren weitgehend.

Wie gelang es, die Wissenschafter*innen für mehr Forschung zu motivieren?

Es gab Incentives, die ich einführen konnte, z.B. Anschubfinanzierung für Forschungsprojekte. Hat jemand ein Forschungsprojekt bei einer gewissen Stelle eingereicht, gab es finanzielle Unterstützung für die Einreichung. Das Geld floss ins Projekt und über einen Werkvertrag konnten z.B. Studierende beschäftigt werden.

Wie gut hat das funktioniert?

Sehr gut. Wenn etwa zehn Projekte eingereicht wurden, dann habe ich den Wissenschafter*innen dafür Anschubfinanzierung gegeben. Wenn, sagen wir, von diesen 10 Projekten zwei bewilligt wurden, hat das ein Vielfaches der Kosten der Anschubfinanzierung eingebracht. Das wurde sehr gut aufgenommen. Außerdem gab es die Regelung, dass in diesen Projekten Overheads verrechnet werden konnten, die blieben teilweise bei der Projektleitung für Investitionszwecke, teils an der Fakultät. Das war sehr hilfreich.

Wie hat sich die Fakultät in den Jahren Ihrer Amtszeit entwickelt?

Deutlich in Richtung Forschung. Es gab Forschungsplattformen, Kooperationen zwischen den Instituten und überfakultär sowie natürlich international. Allerdings habe ich auch die Funktion einer Vizedekanin für die Lehre eingeführt. Das war nicht ganz regelkonform, da Studienprogrammleitungen direkt der Vizerektorin für Lehre zugeordnet waren und darüber Lehre an der Universität organisiert wurde, während Fakultäten und Dekanate vorwiegend für Forschungsorganisation zuständig waren. Das war aber gerade für die Kooperation innerhalb der Fakultät, die ja eine sehr studierendenintensive ist, nützlich.

Haben Sie auch inhaltliche Schwerpunkte gesetzt?

In den Entwicklungsplänen der Universität mussten alle paar Jahre Forschungsschwerpunkte festgelegt werden. Auch das war mit intensiven innerfakultären Aushandlungsprozessen verbunden. Denn durch die Festlegung von Forschungsschwerpunkten kam es zu einer Konzentration. Gleichzeitig wollte jede*r Wissenschafter*in einen Forschungsschwerpunkt haben. Die Diskussionen waren sehr intensiv. Aber es musste eine Festlegung geben, denn über diese Schwerpunkte flossen Budgetmittel. In den Institutsvorstandssitzungen und in Strategieklausuren haben wir die Forschungsschwerpunkte festgelegt. Ganz wichtig waren auch meine Monitoringgespräche mit den Institutsleitungen und jährliche Zielvereinbarungen mit dem habilitierten wissenschaftlichen Personal.

Es gab ja auch viele personalpolitische Veränderungen, was war das konkret?

Ab 2004 habe ich Jahresgespräche mit allen Professor*innen geführt. Da wurden etwa die Anzahl der Publikationen, vor allem in peer reviewed journals, und die sonstigen Forschungstätigkeiten besprochen und vereinbart. Es gab in den Sozialwissenschaften natürlich auch viele gesellschaftsrelevante Aktivitäten, oft journalistische, und eine enge Verflechtung mit gesellschaftlichen Interessensgruppen. So wichtig auch öffentliche Sichtbarkeit ist, so sehr sollte Öffentlichkeitsarbeit nur auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse geschehen, die im Rahmen der üblichen Wissenschaftskritieren (peer review) gesichert sind. Bei den älteren Professor*innen habe ich nicht so sehr den Fokus darauf gelegt, dass diese anfangen, auf Top Rankings in englischsprachigen Zeitschriften hinzuarbeiten, wenn das jahrzehntelang nicht verlangt war. Sie sollten eher darauf schauen, dass sie ihre Assistent*innen und Dissertant*innen in diese Richtung fördern. In meiner Amtszeit ging ein Großteil der Professor*innen in den Ruhestand. Da gab es viele Neuberufungen, auch neue Stellen - und damit verbunden kamen junge Wissenschaftler*innen an die Fakultät. Außerdem habe ich mich als Dekan stark in die Besetzung von Laufbahnstellen involviert, z.B. wenn es um die Bestellung von Gutachter*innen ging. Auch das waren wichtige Steuerungsinstrumente, die zu entscheidenden Veränderungen in der Personalsituation und Ausrichtung der Fakultät geführt haben.

Vielleicht ist das beim Blick auf die heutige Situation völlig unverständlich und den jetzigen Akteur*innen fremd. Aber die Forschungs- und auch Lehrsituation an der Fakultät heute ist das Resultat durchaus konfliktreicher, aber eben auch erfolgreicher Veränderungsprozesse in Personal- und Budgetangelegenheiten und kaum vergleichbar mit der Situation vor 2004.

Herr Richter, warum braucht es eigentlich die Sozialwissenschaften?

Warum braucht es die Sozialwissenschaften nicht? (lacht) Die Sozialwissenschaften betrachten soziale Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen und Strukturen der Gesellschaft. Es sind aktuelle Fragen, zu denen Sozialwissenschafter*innen Stellung nehmen können und sollen. Im Nachklang der Corona-Krise war es schon verwunderlich und sicherlich nicht sinnvoll, dass die politischen Entscheidungsgremien keine Sozialwissenschafter*innen zu Rate gezogen hatten. Ganz unabhängig davon, dass in der ungewohnten Pandemiesituation und den Schrecken der beginnenden Pandemie rasche und schwierige Entscheidungen im Sinne der Gesundheit der Bevölkerung notwendig waren: Es wäre wichtig und vernünftig gewesen, die sozialen Konsequenzen, die wir jetzt politisch zu spüren bekommen, stärker zu berücksichtigen, z.B. darüber zu reden, welche sozialen Auswirkungen Schulschließungen und Co. haben.

Über aktuelle Probleme zu reden, ist aber nicht der einzige Auftrag der Sozialwissenschaften. Es braucht die Balance zwischen Auftragsforschung und Grundlagenforschung. Sich theoretisch und grundlagentheoretisch mit sozialen Strukturen zu beschäftigen, ohne dass es dafür sofort empirische Belege geben muss, ist genauso Aufgabe der Sozialwissenschaften. Wie übrigens auch in den Naturwissenschaften Grundlagenforschung angewandte Forschung vorbereitet. Universitäten sind prädestiniert für solche Aufgaben. Und es braucht immer die Brücke, also Übersetzungsleistungen, wenn es um das Sichtbarmachen des Societal Impacts geht. Das ist sehr wichtig.

Wo sehen Sie Potenzial, um den Sozialwissenschaften noch mehr Schwerkraft zu geben?

Den Sozialwissenschaften wird ja immer wieder vorgeworfen, dass sie im Vergleich zu den Naturwissenschaften nicht auf harten Fakten basieren. Vor allem die qualitative Sozialforschung hat den Nachteil, dass sie nicht wirklich „Beweise“ liefert. Ein Potenzial für mehr Schwerkraft sehe ich in Ehrlichkeit. Es muss klar sein, dass Wissenschaftsaussagen sehr wohl hohen Standards und Überprüfungen standhalten, und dass gleichzeitig alles immer diskutierbar ist. Das gilt aber ebenso für die Naturwissenschaften. Wir müssen mit Unsicherheit leben - und gerade das zu bewältigen, dafür sind Sozialwissenschaften zuständig. Ich stehe dem Satz „Wissenschaft sucht nach Wahrheit“ ambivalent gegenüber. Ist nicht oft „Wahrheit“ etwas das Religionen, also Glaubenssysteme für sich in Anspruch nehmen? Wissenschaft ist nicht die letzte Wahrheit. Für mich trifft es eher zu, zu sagen, dass Wissenschaft nach Richtigkeit sucht, nach Fakten, nach intersubjektiv nachvollziehbaren Erkenntnissen. Und es ist ein Erfolgskriterium von Wissenschaft, Falsches auszusortieren und Neues zu entwickeln. Es ist wichtig, in der Öffentlichkeit darüber aufzuklären, wie Wissenschaft funktioniert. Ja, wir sind Meister unseres Faches. Aber wir dürfen als Wissenschafter*innen auch demütig sein, wissend, dass sich wissenschaftliche Erkenntnisse weiterentwickeln.

Wie kam es zu Ihrer Begeisterung für die Sozialwissenschaften?

Zur Soziologie bin ich über Umwege gekommen. Ich hatte im Wintersemester Englisch und Geografie inskribiert. Als ich mit einem Kollegen von der Uni spazieren war, sagte der zu mir: „Du bist der geborene Soziologe.“ Worauf hin ich im Sommersemester Soziologie, also damals war das ja Soziologie, Psychologie, Pädagogik und Philosophie, zu studieren begann. Mich haben die Strukturen interessiert, die hinter individuellem Verhalten liegen. Das Kollektive, das, was „die Welt im Innersten zusammenhält“. Mich hat fasziniert, dass die Sozialwissenschaften nicht nur aufzeigen können, wie und dass Strukturen „schuld“ sind an gewissen Situationen, sondern, dass Strukturen auch beeinflusst und verändert werden können. Strukturen sind nicht in Stein gemeißelt, Strukturen sind auch veränderbar. Auch vom Individuum. Schließlich sind auch Strukturen von Menschenhand geschaffen.

Was wünschen Sie der Fakultät zum Jubiläum?

Der Fakultät wünsche ich, dass Forschung und Lehre in einem freien und demokratischen Umfeld ohne zu starke Ökonomisierung möglich bleibt. (kh)