20 Jahre Fakultät für Sozialwissenschaften:
Mehr Raum und Anerkennung
Nachdem er zuvor zwei Jahre als Vizedekan für Forschung und Infrastruktur fungiert hatte, übernahm der Kommunikationswissenschafter Hajo Boomgaarden im Oktober 2018 das Amt des Dekans der Fakultät für Sozialwissenschaften, welches er bis September 2024 innehatte. Im Gespräch berichtet er von seinen zentralen Anliegen in dieser Rolle, erzählt, welche Projekte ein Erfolg wurden und wünscht sich für die Zukunft mehr interdisziplinäre Zusammenarbeit an der Fakultät und darüber hinaus.
Wie haben Sie die Fakultät wahrgenommen, als Sie 2014 an die Universität Wien gekommen sind?
Eigentlich gar nicht. Ich hatte mit fakultären Angelegenheiten fast nichts zu tun, abgesehen von Ausschreibungen, wobei ich da auch nicht direkt involviert war. Ich kam aus einem Kontext, in dem die Fakultät eine relativ geringe Rolle gespielt hatte. Denn an der University of Amsterdam, wo ich zuvor als Associate Professor tätig war, gab es eine relativ starke Institutsmanagementstruktur und dadurch für mich keine Berührungspunkte mit der Fakultät. Daher war das Konzept „Fakultät“ zum damaligen Zeitpunkt relativ weit weg für mich.
Ab 2016 waren Sie Vizedekan für Forschung und Infrastruktur – wie kam es dazu?
Mich hatte die damalige Dekanin Ulrike Felt aktiv gefragt, ob ich diese Rolle übernehmen möchte. Es hat mich schon sehr gefreut, dass ich gefragt wurde, denn ich habe dadurch eine Möglichkeit gesehen, an der Universität Wien nochmals anders anzukommen. Also auch mehr Einblicke zu bekommen, wie diese Universität funktioniert.
Was war Ihre Vision für Ihre Zeit als Dekan?
Mein größtes Anliegen war es, das Forschungsumfeld so zu gestalten, dass wir unsere Forschung noch besser machen können. Als ich an die Universität Wien gekommen war, war ich doch überrascht, wie wenig Infrastruktur es gab und auch wie wenig gemeinsames Verständnis dessen, wo man hinwill und wie man da hinkommen kann. Es gab viel weniger Möglichkeitsräume als ich das aus Amsterdam kannte – und das war dann meine Vision, in diesem Bereich etwas zu schaffen.
Wie hat das konkret ausgeschaut?
In meiner Zeit haben wir einige Dinge initiiert – so z.B. das Institutional Review Board für Forschungsethik. Die Tatsache, dass wir nach wie vor über eine Core Science Facility für unsere Forschung, also eine Forschungsinfrastruktur für die Sozialwissenschaften, sprechen und erste wichtige Schritte gesetzt haben, hat auch damit zu tun. Ebenso haben wir Diskussionen zur Beschaffung von Lizenzen und digitaler Infrastruktur für die Umfrageforschung angestoßen. Zudem war eines meiner Anliegen, ein gemeinsames Qualitätsverständnis von Forschung weiter zu fördern. Ich konnte da sehr gut aufbauen auf dem, was Ulrike Felt bereits in ihrer Zeit als Dekanin in die Wege geleitet hatte. Auch, dass wir die Unterstützung für Drittmittelanträge personell ausbauen konnten, war ganz wichtig. Das waren alles ganz wesentliche Schritte.
Welche Ihrer Aufgaben haben die Fakultät nachhaltig geprägt oder vorangetrieben?
Meine Zeit als Dekan war sehr geprägt von Peronalverfahren, in die ich involviert war. Im Zuge des Wachstumsschubes für die Uni Wien zwischen 2019 und 2021, aber auch in Folge einer Reihe von Pensionierungen und eines generationellen Umbruchs hat sich die Begleitung und Qualitätssicherung dieser Verfahren zu einer Kernaufgabe entwickelt. Gerade diese Personalentscheidungen haben aber auch zentral die Weichen für die Zukunft gestellt und werden einen bleibenden Effekt auf die Fakultät haben. So habe ich in den sechs Jahren für ca. zwei Dutzend Tenure Track-Verfahren im Panel teilgenommen und freue mich, so viele exzellente Kolleg*innen über diese Verfahren für die Fakultät gewonnen zu haben.
Zwei sehr aufwendige Prozesse waren die Gründung der Vienna Doctoral School of Social Sciences (ViDSS) und der „Campus Althangrund“, der geplante Bildungscampus auf dem Gelände der ehemaligen Wirtschaftsuniversität. Was die ViDSS betrifft, haben wir die Gründung einer gemeinsamen Doctoral School für die Sozialwissenschaften in enger Zusammenarbeit mit ViDSS-Sprecherin Sophie Lecheler, die sich sehr engagiert hat, wirklich erfolgreich gemeistert. In die Entwicklung und Umsetzung des „Campus Althangrund“ ist die Fakultät sicher auch stark involviert, weil wir immer wieder darauf hingewiesen haben, wie schwierig es für die Zusammenarbeit ist, als Fakultät an so vielen unterschiedlichen Orten verstreut zu sein.
Was waren besondere Herausforderungen in Ihrer Amtszeit?
Die Corona-Krise war eine sehr große Herausforderung. Da war ich sehr dankbar über das Dekanats-Team, allen voran Fakultätsmanagerin Evi Genetti, die diese herausfordernde Zeit mit sehr viel Um- und Weitsicht gemanagt und begleitet hat. Aus einer Managementperspektive hatte ich den Eindruck, dass wir die Krise als Fakultät gut bewältigt haben. Ich betone hier bewusst die Managementperspektive, weil es für die meisten als Betroffene natürlich sehr unterschiedlich war, einfach weil die persönliche Erfahrung eine andere, oft auch sehr herausfordernde war.
Inwiefern hat es aus einer Managementperspektive gut funktioniert?
Unsere Prozesse sind weitergelaufen, der ganze Betrieb ist durch das Engagement und den Einsatz wirklich aller Personengruppen fortgeführt worden. Wir haben relativ schnell alles, was wichtig war, auf online umstellen können und es gab auch keinen Moment, wo wir dem Ganzen völlig hilflos gegenübergestanden wären. Auch die Lehre ist den Umständen entsprechend gut weitergelaufen, soweit ich es mitbekommen habe. Aufgrund der Größe unserer Fakultät habe ich oft nicht gesehen, wie es den einzelnen Kolleg*innen im Privaten ging und welche Probleme dort entstanden sind, aber wir hatten immer ein offenes Ohr für Probleme. Das gilt natürlich generell, aber nochmal ganz besonders in der Corona-Zeit. Mir war es immer wichtig, mit Problemen konstruktiv umzugehen und zu versuchen, Lösungen zu finden.
Welche Herausforderungen gab es abseits der Corona-Krise?
Eine generelle Herausforderung ist, dass die Fakultät sehr breit aufgestellt ist und es daher ein sehr breites Verständnis von Wissenschaft gibt. Dass es also unterschiedliche Zugänge und Herangehensweisen gibt, sowohl theoretisch als auch methodisch. Manchmal ist es nicht so einfach, alles unter einen Hut zu bekommen. Gleichzeitig sehe ich aber auch, dass wir da in den letzte Jahren große Fortschritte gemacht haben.
Inwiefern?
Es ist eine gewisse Akzeptanz dafür entstanden, dass es an der Fakultät einfach unterschiedliche Zugänge gibt. Diese Akzeptanz ist schön und wichtig. Die Doctoral School war sicher auch ein kraftvolles Signal, denn damit ist es uns im Rahmen eines so großen, fakultätsweiten Projektes gelungen, zu einem gemeinsamen Verständnis zu kommen.
Hatten Sie auch ganz persönliche Herausforderungen?
Es war nicht immer einfach, die Balance zu finden zwischen meinem Job als Dekan, den ich natürlich gut machen wollte, und meiner wissenschaftlichen Karriere. Im Zweifel hatte die Verantwortung als Dekan immer Priorität. Und natürlich wartet zuhause auch eine Familie mit eigenen Herausforderungen. Das war zu manchen Zeiten schon ein sehr großer Druck, alles unter einen Hut zu bringen und allen und allem gerecht zu werden. Immer ist das nicht gelungen.
Dennoch haben Sie dann drei Amtsperioden gemacht?
Ja. Ich hatte zu Anfang signalisiert, dass ich jedenfalls zwei Amtsperioden machen würde, weil alles andere zu kurz und nicht sinnvoll gewesen wäre. Bei der dritten Amtsperiode habe ich tatsächlich ein bisschen mit mir gerungen. Irgendwie hatte ich aber den Eindruck, dass ich noch nicht ganz fertig war, vielleicht weil auch Corona-bedingt noch Dinge offen waren. Gleichzeitig gab es einen Wechsel im Rektorat. Ich hatte das Gefühl, ich möchte unter dem neuen Rektorat gerne nochmal zwei Jahre als Dekan versuchen, das eine oder andere in die Wege zu leiten. Und auch dem neuen Rektorat zeigen, wer wir sind, was wir tun und wie gut wir als Fakultät funktionieren. Daher habe ich mich entschieden, noch zwei weitere Jahre als Dekan zu fungieren. Nach insgesamt sechs Jahren war ich aber an einem Punkt angekommen, wo ich meine Forschungstätigkeiten stark runterfahren hätte müssen, um weiter die Rolle als Dekan engagiert ausführen zu können. Da ich denke, dass es für die Fakultät auch gut ist, wenn es regelmäßig einen Wechsel in der Leitung gibt, war das jetzt auch eine gute Entscheidung, keine weitere Periode anzuhängen.
Worin liegt für Sie der gesellschaftliche Auftrag der Sozialwissenschaften?
Als Sozialwissenschafter*innen versuchen wir, gesellschaftliche Entwicklungen zu verstehen, sie zu erklären und einzuordnen. Darauf basierend geben wir Empfehlungen ab, wie unsere Gesellschaft in Zukunft besser oder sinnvoll(er) strukturiert oder gestaltet werden kann.
Wie gut gelingt das?
Eine Herausforderung ist sicherlich, dass die Sozialwissenschaften oft eine zurückblickende Perspektive einnehmen, aber gleichzeitig gesellschaftliche Entwicklungen oft sehr rasch geschehen. Daher ist sozialwissenschaftliche Forschung manchmal zu langsam, um auf der politischen Gestaltungsebene wirklich einen Unterschied zu machen. Ich sehe es aber definitiv als Auftrag der Sozialwissenschaften, dazu beizutragen, mit unserer Forschung auch vorausschauend Herausforderungen anzugehen, Lösungsvorschläge zu machen und so zu einer besseren Gesellschaft beizutragen.
Warum fällt es den Sozialwissenschaften schwer, schnell auf gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren?
Es braucht einfach eine gewisse Zeit, gesellschaftliche Entwicklungen zu identifizieren, diese in Forschung zu übersetzen und vielleicht auch noch Finanzierung für diese Forschung zu finden. So wie unsere Forschung abläuft, also stets theoretisch und methodisch fundiert, das braucht Zeit. Mehr Zeit als schnell ein dreiseitiges Papier zu verfassen. Diese Umstände tragen dazu bei, dass wir nicht immer in der Position sind, in der wir vielleicht sein sollten, um jede gesellschaftliche Herausforderung sofort mit unserer Forschung adressieren zu können. Ein weiteres Problem, das ich sehe, ist, dass unsere Forschungsgegenstände sehr komplex sind. Mit der Folge, dass unsere Forschungsergebnisse oft nicht besonders eindeutig sind. Das ist von Nachteil, wenn es um Wissenschaftskommunikation und gesellschaftlichen Impact geht.
Wie ist das zu verstehen?
Es ist nicht so einfach, sehr nuancierte komplexe Forschungsergebnisse in einfache Kommunikation gegenüber Gesellschaft und politischen Entscheidungsträger*innen zu übersetzen. Hinzu kommt, dass wir als Sozialwissenschafter*innen regelrecht darauf trainiert werden, selbstreflektiert und selbstkritisch zu sein, uns also genau mit diesen Nuancen zu befassen. Das macht uns ja auch ein Stück weit aus. Das ist Teil unserer Ausbildung. Dann zu sagen, jetzt vergesse ich das alles, wenn ich versuche, anderen meine Forschung näher zu bringen, das ist sehr schwierig. Gleichzeitig kreiert das jedoch Probleme, die es uns schwerer machen, schnell guten, wirklichen Impact zu generieren. Da jede*r Teil dessen ist, was wir untersuchen, kann sich jede*r auch relativ schnell eine Meinung bilden. Wenn wir versuchen, Forschungsergebnisse einfach darzustellen, dann besteht immer die Gefahr, dass der Vorwurf kommt: „Dafür habt ihr jetzt zwei Jahre gebraucht?!“ Es ist einfach ein Spannungsfeld und eine Herausforderung, für die ich noch keine gute Lösung sehe.
Wo sehen Sie Potenzial für die Sozialwissenschaften, die Gesellschaft positiv mitzugestalten?
Auch wenn das einen sehr normativen Touch hat, denke ich, es ist durchaus okay sich als Sozialwissenschafter*innen hinzustellen und zu sagen, es muss ganz generell unsere Aufgabe sein, dazu beizutragen, dass diese Welt besser und nicht schlechter wird. Wo wir als Sozialwissenschaften noch zu wenig Raum einnehmen, ist das ganze Zusammenspiel zwischen technischer Entwicklung und gesellschaftlicher Akzeptanz. Denn bei ganz vielen großen gesellschaftlichen Herausforderungen wird angenommen, dass diese rein auf technischer Ebene gelöst werden können, etwa, dass es einfach nur bessere Batteriespeicher braucht und dann fahren alle E-Autos. Aber das stimmt nur zum Teil. Natürlich braucht es technische Lösungen, aber nur weil es diese gibt, bedeutet das noch lange nicht, dass die Menschen diese Entwicklungen auch akzeptieren und mittragen. Und genau um diese Perspektive einzubringen, da dürfen die Sozialwissenschaften noch sichtbarer werden.
Was wünschen Sie der Fakultät zum Jubiläum?
Ich wünsche mir, dass wir in Zukunft die Möglichkeiten der interdisziplinären Zusammenarbeit innerhalb der Fakultät besser nutzen, denn aktuell sind die Institutsgrenzen noch sehr stark und starr. Zudem wünsche ich mir, dass neben den Herausforderungen, wie etwa unsere hohe Studierendenzahl, auch unsere exzellenten Leistungen, die Top-Positionen in internationalen Fächerrankings und die wirklich positive Entwicklung der letzten Jahre besser gesehen, wertgeschätzt und honoriert werden. (kh)