Die Zukunft der Fruchtbarkeit
Überblick
- Eltern werden immer älter. Dieser Befund führt zu ganz neuen Herausforderungen für Menschen ab 35.
- Je älter Paare sind, desto bewusster müssen sie die Entscheidung für oder wider Nachwuchs fällen.
- Biografische Entwicklungen, biologische Faktizitäten und gesellschaftlicher Rahmen beeinflussen den Kinderwunsch. Aber wie genau?
Österreichs Frauen sind heute bei der Geburt ihres ersten Kindes durchschnittlich 29,7 Jahre alt; 1970 lag dieser Wert noch bei 23,6 Jahren. Das Project BIC.LATE untersucht die biologischen, individuellen und kontextuellen Bedingungen, unter denen der Kinderwunsch für Frauen und Männer ab Mitte 30 steht.
Es ist ein weltweiter Trend: das durchschnittliche Alter bei der Geburt des ersten Kindes steigt. In Österreich liegt es derzeit (2019) bei 30 Jahren, 1970 lag es bei 24 Jahren für Mütter. Während 1970 der Anteil an Müttern, die bei der Geburt des ersten Kindes 35 Jahre oder älter waren, nur drei Prozent betrug, waren es 2019 16 Prozent. Umgekehrt sinkt – unabhängig von der Popularität unterschiedlicher Reality-TV-Formate – der Anteil an Teenager-Müttern: von 13 Prozent im Jahr 1970 auf 2 Prozent 50 Jahre später.
„Doch ich beschäftige mich nicht mit der Frage, warum Frauen und Männer auf der ganzen Welt die Familiengründung immer weiter nach hinten verschieben. Die Forschungen darüber füllen ganze Bibliotheksregale“, erklärt Eva Beaujouan vom Institut für Demografie der Universität Wien. „Ich denke vielmehr, es ist Zeit zu verstehen, was mit den Menschen, die sich dem Ende ihrer Fruchtbarkeit nähern, geschieht: Wollen sie Kinder haben oder nicht? Werden sie Kinder haben oder nicht? Und an welchen Faktoren hängt die Entscheidung darüber, ob der Kinderwunsch in späterem Alter Realität wird oder nicht?“
Es geht auch um sozialen Kontext: Darf ich mit 40 ein Kind bekommen, oder ist das tabu?
Mit ihrem Projekt “BIC.LATE – Biological, Individual and Contextual Factors of Fertility Recovery” hat die Mathematikerin und Demografin Eva Beaujouan im Herbst 2021 einen der begehrten Consolidator Grants des European Research Council erobert. In den kommenden fünf Jahren wird sie sich gemeinsam mit einem kleinen Team von Forscher*innen der Frage widmen, wie sich die demografische Tatsache später Fertilität in Zukunft entwickeln wird, „indem wir deren hemmende und unterstützende Faktoren besser verstehen lernen“.
„Menschen bekommen Kinder in sozialen und kulturellen Kontexten“, erläutert Beaujouan. „Diese Kontexte reflektieren die Normen einer Gesellschaft oder eines Landes: Darf ich ein Kind wollen, wenn ich 40 bin, oder berühre ich da ein soziales Tabu? Erhalte ich Unterstützung für die Betreuung eines Kindes, oder nehme ich zumindest an, dass ich Unterstützung erhalten würde? Wenn du das Gefühl hast, du musst alles aufgeben, was du erreicht hast – Karriere, Status etc. –, dann wirst du keine Kinder bekommen.“ Bei diesen Überlegungen spielen auch finanzielle Fragen eine nicht zu unterschätzende Rolle, was die Erschwinglichkeit der Kinderbetreuung insgesamt, aber auch den Zugang zur künstlichen Befruchtung bei Schwierigkeiten mit der Verwirklichung des Kinderwunsches betrifft. „Es gibt Länder, die einen großen Teil der Kosten für die Kinderwunschbehandlungen übernehmen – wie etwa Österreich, allerdings nur bis zum Alter von 39 Jahren –, und anderswo müssen das die betroffenen Paare zur Gänze selbst bezahlen“, betont Beaujouan. „Selbstverständlich wirken sich diese Rahmenbedingungen auf die Entscheidung für oder wider Nachwuchs aus.“
Je älter Paare werden, desto bewusster müssen sie die Entscheidung treffen, ob sie noch Kinder wollen oder nicht. „Wenn eine Frau 40 Jahre alt ist, hat sie im besten Fall eine 65-Prozent-Chance, schwanger zu werden und ein gesundes Kind zu gebären, und danach sinkt die Wahrscheinlichkeit rasant“, erzählt Beaujouan. „Da wir nun aber vor dem Phänomen stehen, dass immer mehr Leute Kinder immer später bekommen wollen, haben wir auch eine immer größer werdende Anzahl von Menschen, die Probleme mit Unfruchtbarkeit haben. „Wenn du jung bist, musst du dich in Bezug auf deinen Kinderwunsch nicht festlegen, weil du keine biologischen Einschränkungen kennst. Aber wie ist das zu späteren Lebenszeitpunkten?“ Beaujouan und ihr Team wollen herausfinden, welche Charakteristika Paare aufweisen, die Mitte 30 noch Kinder haben wollen: „Welche Rolle spielt die tickende Fruchtbarkeitsuhr? Welche biografischen Erfahrungen beeinflussen die Entscheidung für einen späten Kinderwunsch? Inwiefern ist die Entscheidung für ein Kind vom Bildungsniveau, vom Alter der Partner*innen und vom gesellschaftlichen Kontext abhängig?“
Wir fragen nicht nur einmal, sondern folgen den – anonymisierten – Befragten über einen längeren Zeitraum
Das Projekt BIC.LATE arbeitet überwiegend mit bereits erhobenen Daten. Es existieren umfangreiche repräsentative Umfragen, die für die meisten europäischen Staaten sogar standardisiert sind. Dort werden Fragen nach der Familienstruktur, nach bisherigen Geburten, nach dem Kinderwunsch, nach den Arbeits- und Bildungsverhältnissen gestellt, die die Forscher*innen um Beaujouan nun neu verknüpfen und auswerten können. „Der größte Vorteil ist aber, dass wir den – selbstverständlich anonymisierten – Befragten über einen längeren Zeitraum folgen können, weil die Umfragen wiederholt wurden: Zum Beispiel wissen wir, wie es den Leuten mit 35, mit 38 und in einigen Ländern auch mit 41 Jahren geht, und können Veränderungen, biografische Brüche oder den Einfluss äußerer Ereignisse beobachten und interpretieren.“ Das Team denkt auch an die Zukunft: „Wir versuchen, die Fragen zu verbessern, die den Menschen in Umfragen gestellt werden, um mehr über deren Erfahrungen mit der Fruchtbarkeit zu erfahren.“
Informationen zum verwendeten Datenmaterial
Die meisten Daten stammen aus Sozialerhebungen wie den Generations and Gender Surveys (GGS) oder dem Beziehungs- und Familienpanel pairfam, die Forschern qualitativ hochwertige Daten über Familien und Lebensverläufe von Individuen liefern, um wichtige Fragen zu aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen zu beantworten.
Neben Fragen zum sozioökonomischen Status (Bildungsniveau, Haushaltstyp, Herkunftsfamilie) sind einige Fragen für die Studien von BIC.LATE und die menschliche Fortpflanzung besonders relevant, zum Beispiel:
- Haben Sie vor, in den nächsten drei Jahren ein Kind zu bekommen?
- Wie stark würde Ihre Entscheidung, in den nächsten drei Jahren ein Kind zu bekommen von den folgenden Dingen abhängen? (Arbeit, finanzielle Situation, Gesundheit, Möglichkeiten Karenz zu nehmen, ...)
- (Zur aktuellen Schwangerschaft) Wenn Sie an die Zeit vor der Schwangerschaft denken, wollten Sie bewusst das Kind?
Im Rahmen der GGS werden in 20 verschiedenen Ländern Daten von etwa 8.000 bis 10.000 zufällig ausgewählten Männern und Frauen in jedem Land erhoben. Die Stichprobe der befragten Personen liefert ein repräsentatives Bild der gesamten Nation und ermöglicht länderübergreifende Vergleiche. Darüber hinaus können bei GGS und pairfam im Rahmen von Folgeerhebungen in Abständen von einigen Jahren erneut Fragen an Einzelpersonen gestellt werden, um Veränderungen in ihrem Leben zu beobachten.
Weil diese Umfragen in vielen Staaten durchgeführt werden, tun sich praktisch unendliche Vergleichsdimensionen auf, die eine Vorauswahl auf der Basis von Hypothesenbildungen notwendig machen. Diesbezüglich steht das Forschungsprojekt aber erst am Anfang. „Wir postulieren – das scheint offensichtlich –, dass Frauen mit hohem Bildungsniveau häufiger kinderlos bleiben, den Kinderwunsch, wenn überhaupt, erst sehr spät entwickeln oder zulassen und dementsprechend häufiger medizinische Unterstützung brauchen – und sich diese Unterstützung auch leisten können. Auch das Alter der Partner*innen wird vermutlich signifikante Auswirkungen auf die Entscheidung haben.“ Darüber hinaus will Beaujouan auch die gesellschaftskulturelle Ebene vergleichen: „Welche Unterschiede gibt es also zwischen familienkulturell eher ‚liberal‘ und eher ‚konservativ‘ geprägten Gesellschaften in Bezug auf das späte Kinderkriegen? „Wir haben erwartet, dass kulturelle Faktoren die Entscheidung für oder gegen die Schwangerschaft im späteren Alter beeinflussen, aber im Moment sieht es nicht so aus. Wir stoßen auch jetzt schon auf scheinbare Paradoxien, zum Beispiel weisen Frauen in Österreich im Europadurchschnitt ein hohes Erstgeburtsalter auf, erhalten aber praktisch keine finanzielle Unterstützung für die assistierte Reproduktion ab 40 Jahren. Hier werden wir noch eine Menge Hypothesen zu testen haben“, freut sich Beaujouan – zumal ihr Team mit einem anderen Forschungprojekt kooperiert, das einen qualitativen Zugang gewählt hat. „Das wird es uns erlauben, die Befunde, die sich aus den qualitativen Methoden ergeben, anhand unserer quantitativen Daten zu testen.“
Wir können nicht einfach sagen: ‚Hey, lasst eure Eizellen einfrieren, wenn ihr 25 seid!‘
„Ich denke sehr häufig darüber nach, in welcher Weise wir die Ergebnisse unserer Forschungen einer breiten Öffentlichkeit kommunizieren sollen“, erzählt Beaujouan. „Ich bin Wissenschafterin, ich will mich nicht einmischen. Ich stelle Daten und Ergebnisse zur Verfügung, damit die Leute, die politische Entscheidungen zu treffen haben, über diese Informationen verfügen. Doch zugleich habe ich großes Mitgefühl mit den Menschen, die in fortgeschrittenem Alter Kinder wollen, sie aber nicht mehr bekommen können. Doch wenn wir uns nun hinstellen und sagen: ‚Seid vorsichtig, wenn ihr zu lange wartet, werdet ihr keine Kinder mehr kriegen können‘, erhöhen wir möglicherweise den reproduktiven Stress dieser Menschen, und das ist auch nicht mein Ziel. Wir könnten den Frauen auch sagen: ‚Hey, wenn ihr 25 seid, wäre das der ideale Zeitpunkt, um eure Eizellen einfrieren zu lassen, nur für den Fall.‘ Aber natürlich ist die Eizellenspeicherung eine marktgetriebene Industrie und wird für die meisten Menschen zu teuer sein. Dies ist keine Universallösung und ich glaube nicht, dass es meine Aufgabe ist, dafür zu werben. Ich bin in der Frage der Kommunikation wirklich sehr gespalten.“
Es existieren Studien darüber, für wie informiert sich Menschen in Reproduktionsfragen halten. „Da zeigt sich, dass viele Leute einerseits ihre Chancen, Kinder zu bekommen, deutlich überschätzen, und es andererseits eine Menge Frauen und Männer gibt, die sich für unfruchtbar halten, ohne es wirklich zu sein. Außerdem wird Unfruchtbarkeit oft als Frauensache dargestellt, was die Belastung und den Stress für die Frau stärker erhöht als für den Mann. Der Aufschub des Kinderkriegens sollte jedoch nicht als Frauenthema betrachtet werden, sondern als eine Tatsache, die Männer wie Frauen betrifft.“ Er sollte also als gesellschaftlicher Trend und nicht als individuelles Versagen betrachtet werden. Mehr Information erscheint daher dringend notwendig. Die Forschung beginnt gerade, und die Möglichkeiten zur Dissemination der Ergebnisse sind vielfältig, wenngleich das letzte Wort in dieser Frage noch längst nicht gesprochen ist. (tg)
Eckdaten zum Projekt
- Titel: BIC.LATE – Biological, Individual and Contextual Factors of Fertility Recovery
- Laufzeit: 09/2021 – 08/2026
- Projektteam: Eva Beaujouan (Projektleitung), Marie-Caroline Compans, Ester Lazzari (Universität Wien); Katja Köppen (Universität Rostock)
- Institut: Institut für Demografie an der Universität Wien, Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital
- Finanzierung: BIC.LATE wird vom European Research Council (ERC) im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms "Horizon 2020" der Europäischen Union gefördert (Grant Agreement Nr. 101001410).
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