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Rabenmütter, Glucken, Karrieremänner – Elternkarenz unter der Lupe
Überblick
- Demograf*innen untersuchen mit dem Projekt „Skill-PAL“, ob eine lange Elternkarenz zu einem Verlust an arbeitsmarktrelevanten Kompetenzen - und in weiterer Folge auch Einkommensverlust führt.
- Dafür werden Daten aus 21 europäischen Länder zusammengetragen und zusätzlich ein Vergleich zwischen Österreich und Schweden angestellt.
- Das Projekt soll wichtige Informationen für politische Entscheidungen liefern und zur Debatte um die optimale Dauer von Kinderbetreuungszeiten beitragen.
Wie beeinflusst Elternkarenz die berufsbezogenen Fähigkeiten von Müttern? Ein Forschungsteam am Institut für Demografie untersucht mithilfe eines neu entwickelten Datensatzes, der gesetzliche Regelungen zur Elternkarenz in 21 europäischen Ländern über fünf Jahrzehnte umfasst, Zusammenhänge zwischen Karenzdauer, Fähigkeiten und Einkommen. Ziel ist es, ein fehlendes Puzzlestück im Verständnis des Gender Pay Gaps zu liefern – und damit wichtige Impulse für Politik, Arbeitsmarkt und gesellschaftliche Debatten zu setzen.
Nach wie vor verdienen Frauen weniger als Männer. Mit ein Grund dafür ist die Tatsache, dass sich Karriereunterbrechungen von Müttern negativ auf deren Einkommen auswirken können. Jedoch bleibt die genaue Ursache dafür unklar. In zahlreichen Untersuchungen wird der Verlust von Humankapital während der Elternkarenz als möglicher Grund genannt. Unter Humankapital versteht man das Wissen, die Fähigkeiten und die Berufserfahrung, die eine Person im Laufe ihres Lebens erwirbt und im Berufsleben einsetzt. Dieses „Kapital“ kann durch längere Auszeiten – wie etwa eine Elternkarenz – an Wert verlieren, etwa weil berufliche Kenntnisse nicht angewendet, Kompetenzen nicht weiterentwickelt oder wichtige Erfahrungen nicht gesammelt werden. Frei nach dem Prinzip „use it or lose it“ kann fehlende Praxis dazu führen, dass man Kompetenzen verliert. Empirische Belege für diesen Zusammenhang fehlen jedoch. Das soll sich nun ändern. Die Demografin Sonja Spitzer leitet seit Juli 2024 an der Universität Wien das Projekt „Skill-PAL“, welches ein fehlendes Puzzlestück liefern soll. „Mein Team und ich wollen wissen, ob eine lange Elternkarenz wirklich dazu führt, dass arbeitsmarktrelevante Kompetenzen zurückgehen. Das wiederum könnte das niedrigere Einkommen von Müttern erklären“, sagt Spitzer.
Die Gründe für den Gender Pay Gap zu klären, ist allen voran für politische Entscheidungsträger*innen interessant, aber auch für Familien selbst und für Arbeitgeber*innen. Für letztere vor allem dann, wenn sich herausstellt, dass während der Karenz berufsbezogene Fähigkeiten verloren gehen. Erste Ergebnisse des Projekts zeigen jedoch, dass der Rückgang von Kompetenzen zwar existiert, aber nicht so stark ist, dass er den Gender Pay Gap allein erklären könnte. Vielmehr könnte dies darauf hindeuten, dass andere Faktoren, wie Diskriminierung am Arbeitsmarkt oder strukturelle Nachteile, eine größere Rolle spielen. Sollte sich bestätigen, dass Mütter keine signifikanten Kompetenzverluste erleiden, stellt sich umso dringlicher die Frage, warum sie dennoch deutlich weniger verdienen.
Andererseits könnte das Forschungsprojekt auch für die Debatte rund um den Fachkräftemangel wichtige Informationen liefern. Denn derzeit wird immer wieder argumentiert, Frauen seien eine Lösung für den Fachkräftemangel. „Vor allem in deutschsprachigen Ländern wird oft suggeriert, dass der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften durch eine erhöhte Beteiligung von Müttern am Arbeitsmarkt gelöst werden kann“, erklärt Spitzer. Sollte sich allerdings die ursprüngliche Hypothese des Forschungsteams bestätigen, dass sich die Fähigkeiten von Müttern während der Elternkarenz verschlechtern, dann würde das auch bedeuten, dass lange Karriereunterbrechungen von Frauen das Fachkräftepotenzial auch über den Verlust von Kompetenzen reduzieren.
Neuer Datensatz als Herz des Forschungsprojekts
Herzstück von „Skill-PAL“ sind umfangreiche Daten. Projektmitarbeiterin Adèle Lemoine erzählt: „In einem ersten Schritt haben wir einen neuen Datensatz erstellt. Dafür haben wir Informationen zu gesetzlichen Regelungen rund um Mutterschutz und Elternkarenz in 21 europäischen Ländern für die Jahre 1970 bis 2024 gesammelt.“ In einem zweiten Schritt wird die Verknüpfung zwischen Karenzregelungen, Karenzdauer und Fähigkeiten länderübergreifend verglichen. Dazu haben die Forscherinnen ihren eigenen Datensatz mit Daten der sogenannten PIAAC-Studie, die unter der Leitung der OECD Kompetenzen Erwachsener in über 40 Ländern untersucht, zusammengeführt. Konkret werden bei der PIAAC-Studie Rechen-, Lese- und Problemlösungskompetenzen anhand eigens entwickelter Aufgaben im Rahmen von persönlichen Interviews erhoben und mit Kompetenzwerten innerhalb einer Kompetenzskala beschrieben. So werden berufsbezogene Fähigkeiten und gesetzliche Karenzregelungen in Relation gesetzt.
In einem weiteren Schritt werden die langfristigen Auswirkungen von Elternkarenz betrachtet. „Dafür verknüpfen wir unseren Datensatz mit dem SHARE-Datensatz“, erklärt Lemoine. Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE) ist eine Befragung, die Daten zum Leben von Menschen über 50 erhebt, darunter auch berufsbezogene Fähigkeiten. So wird festgestellt, ob es noch Jahrzehnte nach der Geburt eines Kindes einen Zusammenhang zwischen der Dauer der Elternkarenz und arbeitsmarktrelevanten Kompetenzen gibt.
Von der Breite in die Tiefe
Nach dieser breiten Perspektive geht es dann mit zwei Fallstudien in die Tiefe. Sonja Spitzer dazu: „Wir schauen uns Österreich und Schweden an, denn da haben wir großartige Registerdaten.“ Seit 2023 haben österreichische Forscher*innen durch das Austrian Micro Data Center (AMDC) nun auch die Möglichkeit, auf Registerdaten zuzugreifen. Diese stammen aus administrativen Aufzeichnungen. „Diese Daten sind viel zuverlässiger als Daten aus einer Befragung. Während die skandinavischen Länder solche Daten schon seit Jahrzehnten haben, ist Skill-PAL eines der ersten Forschungsprojekte, das die neuen AMDC-Daten der Statistik Austria für diese Fragestellung nutzen kann“, freut sich Spitzer. „Mit Österreich und Schweden haben wir zwei sehr unterschiedliche Länder: Österreich hat eine der längsten Elternkarenzzeiten der Welt. Schweden ist ein sehr egalitärer Staat, in dem es üblicher ist, die Karenz unter den Eltern aufzuteilen“, erzählt die Demografin. Die Registerdaten geben dem Projektteam umfangreiche Details wie z.B. über das Einkommen, darüber, wann ein Kind geboren wurde, wie gesund es bei der Geburt war oder auch, ob es mehrere Kinder waren.
Auf der Suche nach Zusammenhängen
Diese detaillierten Daten werden in anschaulichen Diagrammen zur Forschungsfrage analysiert. Dabei dürfen keine falschen Schlussfolgerungen gezogen werden. Spitzer: „Unsere Forschungsfrage ist, ob eine längere Elternkarenz zu geringeren Kompetenzen führt. In den Daten sehen wir, dass Frauen, die eine längere Karenz nehmen, auch geringere arbeitsmarktrelevante Kompetenzen haben. Aber: es könnte sein, dass das nur eine Korrelation ist – und keine Kausalität. Es könnte auch sein, dass Frauen mit bestimmten Merkmalen, wie z.B. geringerer Bildung, auch länger zu Hause bleiben.“ Da politische Empfehlungen folgen sollen, muss die Kausalität klar bestimmt werden. Denn nur so können auch sinnvolle politische Entscheidungen getroffen werden, die tatsächlich etwas verändern.
Aber wie lässt sich die Kausalität herausfinden? Andere Disziplinen, etwa die Medizin, arbeiten dazu mit Experimenten. So wird z.B. ein neues Medikament mittels einer Behandlungs- und einer Kontrollgruppe getestet. In den Sozialwissenschaften ist das so nicht möglich. „Wir können nicht sagen, die eine Gruppe geht vier Monate, die andere sechs und die dritte ein Jahr in Elternkarenz. Das geht nicht“, betont Spitzer. „Wir können aber Kausalität nachweisen, indem wir so genannte ‚natürliche Experimente‘ finden. Wir suchen nach Situationen in der realen Welt, die wie ein Experiment sind“, sagt Spitzer. Für „Skill-PAL“ können die Forscherinnen auf ein natürliches Experiment aufgrund einer Gesetzesänderung zurückgreifen – zum Beispiel wurde in Österreich im Jahr 1990 die Elternkarenz von einem auf zwei Jahre erhöht. Dadurch entstehen zwei Gruppen. Eine Gruppe von Müttern, die kurz vor und eine Gruppe von Müttern, die kurz nach der Gesetzesänderung ihr Kind auf die Welt gebracht haben. „Wir haben also eine Kontroll- und eine Behandlungsgruppe“, erklärt Spitzer. Lemoine ergänzt: „Die Registerdaten ermöglichen, sehr nahe an den Zeitpunkt heranzukommen, an dem die Reform greift. Je näher wir an dieser Schwelle sind, desto unverzerrter sind die Ergebnisse, da vergleichbare Mütter untersucht werden, die zufällig in der Kontroll- oder Behandlungsgruppe landen.“
Herausforderungen im Forschungsprozess
„Wir haben uns für den neuen Datensatz die gesetzlichen Regelungen zu Mutterschutz und Elternkarenz sowie Reformen dazu in 21 Länder über einen Zeitraum von fünfzig Jahren angeschaut – und wir suchen nach unterschiedlichsten Variablen, wie etwa die Länge der Karenz, Benefits oder auch wie die Karenz zwischen Elternteilen aufgeteilt werden kann. Nicht zu vergessen Sonderregelungen oder unterschiedliche Begrifflichkeiten – auch das soll vergleichbar sein. Das ergibt eine unglaubliche Datenmenge“, beschreibt Spitzer die Dimensionen des Forschungsprojekts. Projektmitarbeiterin Zhanxiong Song erzählt, dass es nicht immer leicht war, konsistente Daten zu finden. Auch war es eine Herausforderung, eine Definition für jede Variable zu haben und dadurch Länder untereinander vergleichen oder auch Vergleiche innerhalb eines Landes im Zeitverlauf ziehen zu können. Schließlich gibt es für Elternkarenz unterschiedliche Begriffe und Konzepte in den verschiedenen Ländern. „Zum Teil waren die Übersetzungen eine wirkliche Herausforderung“, berichtet Song. Ihre Kollegin Lemoine ergänzt: „Da wir bis 1970 recherchiert haben, gab es manchmal nur eingescannte Papiere zur Gesetzgebung, die teils in einem alten Stil geschrieben waren. Das war so ziemlich der schwierigste Teil.“ Aufgrund der sprachlichen Herausforderungen sind mehr als 20 Länderexpert*innen aus verschiedenen Forschungsinstitutionen in ganz Europa an dem Skill-PAL-Projekt beteiligt. Sie schauen sich nun den fertigen Datensatz an und überarbeiten diesen.
Forschung über Mütter als Mehrwert für Mütter
Wenn sich die Politik mit der optimalen Dauer der Elternkarenz befasst, gibt es viele Aspekte zu berücksichtigen. Es braucht ein sorgfältiges Abwägen – zwischen Schutz und Fürsorge für ein Kind, finanziellen Aspekten, Arbeitsmarktintegration, den langfristigen Einkommen von Müttern und gesellschaftlichen Zielen wie Geschlechtergerechtigkeit. Besonders relevant ist das für Länder wie Österreich, das zu den Ländern mit den weltweit längsten Karenzzeiten zählt. „Ursprünglich galt das Interesse der Gesundheit der Kinder und den Auswirkungen einer langen Elternkarenz auf Beschäftigung und Einkommen der Mütter. Jetzt geht es oft auch um andere Dimensionen die Mütter betreffend, wie etwa deren Gesundheit und deren Gesundheitsverhalten“, sagt Spitzer. „Eine Studie aus Österreich zeigt beispielsweise, dass besonders lange Elternkarenzzeiten einen negativen Effekt auf die mentale Gesundheit von Müttern haben. Wir vermuten, dass es einen Kipppunkt gibt, an dem die Karenz ‚zu lange‘ ist. Genau zu diesen Fragestellungen leisten wir mit unserer Forschung einen Beitrag, wobei wir uns auf die Dimension der Kompetenzen und letztlich auch die Dimension des Einkommens in der Debatte fokussieren“, erklärt die Demografin.
Skill-PAL könnte auch direkt Müttern dienen, bessere Entscheidungen zu treffen. Lemoine dazu: „Aktuelle Studien zeigen, dass Mütter nicht ausreichend über die Folgen einer langen Karenz aufgeklärt sind. Das wiederum vergrößert die geschlechtsspezifische Diskrepanz aufgrund der Dauer der Elternzeit.“ Wenn es also derzeit nicht genug Bewusstsein unter Müttern gibt, dass die Dauer der Karenz Auswirkungen auf ihr langfristiges Einkommen, ihre arbeitsmarktrelevanten Kompetenzen und vielleicht auch ihre Pension hat, dann könnten mehr Informationen aus der sozialwissenschaftlichen Forschung ein besseres Verständnis dafür schaffen. Das wiederum könnte ein wichtiger Hebel sein, um Altersarmut bei Frauen zu verhindern.
Verschiedene Dimensionen als Einflussfaktoren berücksichtigen
Ein Blick in die Literatur zu Reformen, die Anreize für eine gerechtere Aufteilung der Karenzzeit zwischen Eltern schaffen, zeigt, dass eine veränderte Politik langfristig zu veränderten Normen eines Landes führt. „In Spanien belegt eine aktuelle Studie, dass Jungen, deren Väter länger in Karenz waren, gleichberechtigtere Rollenbilder entwickeln“, erzählt Adele Lemoine: „Genau da wird es interessant, denn alles ist miteinander verbunden. Das ist der Punkt, an dem Institutionen, Normen und Kultur eines Landes zusammenkommen. Und das ist essenziell für sozialwissenschaftliche Forschung: Wir müssen immer verschiedene Dimensionen berücksichtigen, auch dann, wenn wir uns für politische Maßnahmen und deren Auswirkungen interessieren. Es gibt immer noch andere kontextbezogene Faktoren, die die Entscheidungen der Menschen beeinflussen können." Umgekehrt beeinflussen auch die Normen eines Landes das Verhalten der Menschen. Konkret: So wie es Mütter in ihrem Umfeld machen, gilt als Norm für andere Frauen. In deutschsprachigen Ländern ist ein starker Einbruch bei der Beschäftigung von Müttern nach der Geburt ihrer Kinder „normaler“ als in nordischen oder liberalen Ländern. Wie stark gesellschaftliche Normen das Bild von Frauen und Elternschaft prägen, zeigt sich auch in der Sprache: Während in Deutschland und Österreich Mütter, die früh wieder arbeiten gehen, oft als „Rabenmütter“ abgestempelt werden, gibt es in Frankreich das gegenteilige Stigma: Dort spricht man von der „mère poule“ – der Gluckenmutter – wenn eine Frau lange bei ihren Kindern bleibt. „Das sagt so viel darüber aus, wie Kultur unsere Sicht auf Mutterschaft prägt“, betont Spitzer. All das gilt es in der Forschung zu berücksichtigen.
Sonja Spitzer und ihr Team sind auf Basis ihrer vorläufigen Ergebnisse zuversichtlich, mit ihrem Projekt Erklärungen zu finden. Erste Auswertungen zeigen, dass längere Zeiten in Elternkarenz nicht sofort negative Auswirkungen auf die beruflichen Fähigkeiten von Müttern haben. Die Daten deuten jedoch darauf hin, dass längere Auszeiten vom Beruf dazu führen, dass Frauen insgesamt kürzer arbeiten und öfter ihre Karriere unterbrechen. Das könnte im Laufe des Lebens dazu führen, dass sie weniger Wissen und berufliche Erfahrung sammeln. Im höheren Alter schneiden Mütter, die besonders lange in Karenz waren, bei Rechentests schlechter ab. Das spricht dafür, dass nicht ein kurzfristiger Verlust von Fähigkeiten das Problem ist, sondern dass längere Unterbrechungen im Berufsleben langfristig zu geringeren Kenntnissen und dadurch auch zu Nachteilen beim Einkommen führen können. Mehr Details wird es nach Abschluss des Projekts geben. Dieses läuft noch bis 2026. Zum Projektabschluss sollen die gesammelten Daten und die Ergebnisse mittels eines Strategiepapiers politischen Entscheidungsträger*innen zugänglich gemacht werden. Die breite Öffentlichkeit soll über eine Kooperation mit einem Podcast sowie Medienarbeit erreicht werden. (kh)
Eckdaten zum Projekt
- Titel: Skill loss during parental leave and its role for gender disparities in earnings
- Laufzeit: 7/2024 – 6/2026
- Projektteam: Sonja Spitzer, Adèle Lemoine, Claudia Reiter, Zhanxiong Song
- Beteiligte und Partner*innen: Angela Greulich (FR), Agneta Herlitz (SE)
- Institut: Institut für Demografie
- Finanzierung: ÖAW