Fischkopf in einem Glas

Die Fotografie "Fisch" entstand im Zuge des Forschungsprojektes „The Art of Arriving: Reframing ‚Refugee Integration‘“. © Linda Zahra

Kunstvolles Ankommen – wie Literatur, Musik, und Fotografie neue Blickwinkel im Kontext der Fluchtmigration fördern

Überblick

  • Soziolog*innen der Universität Wien haben Künstler*innen bei Schaffensprozessen von Kunstwerken zum Thema „Ankommen“ begleitet.
  • Die dadurch entstandenen Kunstwerke wurden als Impuls in Gruppendiskussionen eingesetzt, um diverse Blickwinkel auf Ankunft von Teilnehmenden mit unterschiedlichen Fluchterfahrung sichtbar zu machen.
  • Dadurch wollten die Wissenschafter*innen dazu beitragen, Ankommen jenseits von etablierten und gesellschaftlich verankerten Denkmustern zu verstehen und darzustellen.

Im transdisziplinären Projekt „The Art of Arriving: Reframing ‚Refugee Integration‘“ haben Soziolog*innen der Uni Wien gemeinsam mit Künstler*innen, die zum Teil selbst Fluchterfahrung haben, Prozesse des Ankommens erforscht. Ziel war es, abseits gängiger wissenschaftlicher und politischer Diskurse zum Thema „Integration“, neue Erkenntnisse zur Thematik zu Tage zu fördern.

Der Begriff des Ankommens war von Anfang an ein zentraler im Projekt, wobei es nicht nur um das physische Ankommen geht: „Wir sehen das Ankommen eher als einen oft lang andauernden Prozess, wo es vor allem um die Interaktion zwischen dem Ort des Ankommens und den Ankommenden geht“, erläutert Projektleiter Michael Parzer.

Projektmitarbeiterin Ana Mijić erklärt weiter, dass es durch die Einbindung von Kunst in Explorationen um Auffassungen des Ankommens auch um ein Öffnen des Raumes für neue Perspektiven geht: „Aus wissenschaftlicher Sicht ist es für uns sehr wichtig, die eigene Position zu verlassen und zu versuchen, Dinge auch mal aus neuen Perspektiven heraus zu verstehen, abseits von etabliertem Fachwissen.“

Künstler*innenteams

Diese Öffnung des Raumes war vor allem in der ersten Phase des Projekts geplant, bei dem die Soziolog*innen eng mit Kunstschaffenden zusammenarbeiteten. Dabei kontaktierten sie Künstler*innen aus den Sparten Literatur, Musik und Fotografie und stellten Teams zusammen, die aus je einer Person mit rezenter Fluchterfahrung, einer Person mit länger zurückliegender Fluchterfahrung, und einer Person ohne Fluchterfahrung bestanden. Diese Teams wurden dann gebeten, sich künstlerisch mit dem Thema auseinanderzusetzen, wobei seitens der Wissenschafter*innen offengelassen wurde, was entstehen soll.

Der Fokus auf Literatur, Musik und Fotografie wurde im Hinblick auf die spätere Verwendung der Kunstwerke in Gruppendiskussionen gewählt: „Wir wollten, dass wir die Kunstwerke selbst in den Diskussionen einsetzen können. Das wäre etwa bei einer großen Skulptur nicht möglich gewesen, da hätten wir nur Bilder davon zeigen können“, so Mijić.

Im Literaturteam entstand eine deutschsprachige Kurzgeschichte, welche vor einem Restaurant in einer österreichischen Stadt spielt. „Dort wird deutlich, dass der Prozess des Ankommens von einem Prozess des Glättens und des Verschweigens begleitet wird. So werden Namen verschwiegen oder Meinungen; zu glätten versucht wird die Sprache – indem etwa auf auswendig gelernte Sprichwörter zurückgegriffen wird; die retten den Protagonisten immer wieder und ermöglichen einen glatten, geschmeidigen Ausweg aus Gesprächen. Ankommende sehen sich mit sehr starken, aber auch unspezifischen Erwartungen konfrontiert, und reagieren darauf mit einem Glätten ihrer Oberflächen“, erklärt Ana Mijić.

Im Musikteam kreierte jedes Mitglied ein Musikstück, das sich auch auf die anderen in diesem Prozess entstandenen Stücke bezog. „Diese Stücke sind sehr unterschiedlich“, so Parzer. „Dies ist auf die jeweiligen Erfahrungen mit ‚Ankommen‘ zurückzuführen, spiegelt aber auch unterschiedliche ästhetische Zugänge wider: Eines ist rein instrumental, andere arbeiten auch mit Text; und auch musikalisch wurde auf sehr unterschiedliche Genres zurückgegriffen.“

Die Fotograf*innen erstellten zwei Broschüren, die den Chatverlauf ihrer WhatsApp Gruppe, gemeinsam mit verschiedenen Fotografien, ins Zentrum rücken – hier wurde also der Entstehungsprozess und vor allem der Austausch über mögliche Darstellungsformen von „Ankommen“ in der Fotografie selbst zum Kunstwerk gemacht. Zusätzlich entstand noch eine Fotoreihe mit dem Titel „Fisch“ von Linda Zahra.

Kunstwerke als Stimulationsmaterial in Gruppendiskussionen

Die entstandenen Kunstwerke wurden in weiterer Folge auch als Impuls für Gruppendiskussionen verwendet, wobei es um die Erfahrungen der Diskutant*innen mit Prozessen des Ankommens gehen sollte. Dabei stellten die Forscher*innen Gruppen mit 2 bis 5 Teilnehmenden zusammen. Anders als bei den Künstler*innengruppen, die sich aus je einer Person ohne Fluchterfahrung, einer Person mit rezenter und einer Person mit länger zurückliegender Fluchterfahrung zusammensetzten, war es den Forschenden hier wichtig, Personen mit ähnlich lange zurückliegenden Erfahrungen miteinander diskutieren zu lassen.

Mitten im Projekt begann der Krieg in der Ukraine. Aufgrund einer Förderung des FWF für die Anstellung ukrainischer Wissenschafter*innen gelang es dem Projektteam, die beiden Forscher*innen Olena Tkalich und Yelyzaveta Zolotarova mit ukrainischem Hintergrund für das Projekt zu gewinnen. Dadurch wurde es möglich, Gruppendiskussionen auch mit Personen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, zu führen. In einem Blogbeitrag berichten die beiden Projektmitarbeiterinnen zu ihren Erfahrungen als Teil des Forschungsteams. 

„Wir konnten feststellen, dass mithilfe der Kunstwerke als Input ganz andere Dinge formuliert werden können, auch dadurch, dass sich auf die Kunstwerke bezogen werden kann“, so Mijić. Gerade Aspekte, die mit starken Emotionen verbunden sind, konnten durch die Bezugnahme auf künstlerische Ausdrucksformen leichter thematisiert werden. Da eine sprachliche Barriere zum Teil eine Rolle spielte, wurden die Musikstücke und die Fotoserie häufiger als Impuls verwendet, als die Kurzgeschichte. „Zudem dauert es auch länger, die Geschichte zu lesen, und das muss dann vor der eigentlichen Diskussion geschehen“, gibt Michael Parzer zu bedenken.

Effekte auf Diskutant*innen

Das Forschungsteam befindet sich aktuell noch in der Analyse der Materialien, die im Zuge der zahlreichen Gruppendiskussionen generiert wurden. Insgesamt haben die Wissenschafter*innen den Eindruck, dass die Teilnehmer*innen es als angenehm und bereichernd fanden, sich mit Personen, die ähnliche Erfahrungen hatten, explizit zur Thematik des Ankommens auszutauschen. Besonders wichtig war den Forschenden hier auch ein sensibler und reflektierter Umgang mit den Teilnehmenden der Gruppendiskussionen. „Wir wollten Menschen, die sich mitunter in einer vulnerablen Phase befinden, nicht so zum Objekt unserer Betrachtungen machen“, so Mijić. „Wir haben zwar schon viel Erfahrung in der Forschung mit Menschen mit Fluchterfahrung aus vorherigen Projekten, trotzdem müssen wir hier wirklich sehr vorsichtig und aufmerksam sein“. 

So konnte auch ein Spannungsverhältnis zwischen den unterschiedlichen Rollen, die von Forschenden und Diskutant*innen eingenommen wurden, und die Emotionen, die dabei aufkommen können, beobachtet werden: „Eine Teilnehmerin hat mir nach dem Ende der Gruppendiskussion gesagt, dass sie es als äußerst irritierend empfand, sehr persönliche Dinge von sich zu erzählen, während ich daneben saß und mich weitgehend zurückhielt. Das war meiner Rolle als Forscherin geschuldet, da ich ja die Diskussion möglichst wenig lenken wollte. Ich fand es sehr gut, dass sie ihre Emotionen so offen angesprochen hat“, erinnert sich Ana Mijić. Die Situation wurde aufgelöst, indem die Wissenschafterin im Anschluss erzählte, aus welchen Gründen sie sich mit Fluchtmigration auseinandersetzt.

Transdisziplinäres Forschen während des künstlerischen Schaffensprozesses

Die Künstler*innenteams wurden im Sinne eines transdisziplinären Forschungsdesigns als wichtige Partner im Hinblick auf die Generierung von Wissen gesehen und standen über den gesamten Schaffungsprozess hinweg im engen Kontakt mit den Soziolog*innen. Während Lisa Bock, die zu Beginn noch Teil des Forschungsteams war, die Fotograf*innen begleitete, verfolgte Michael Parzer vor allem die Entwicklungen im Musikteam. Ana Mijić nahm an Prozessen im Literaturteam teil. „Wir verfolgten, wie sich die Künstler*innen miteinander über das Schaffen der Kunstwerke verständigten und wie die Kunstwerke entstanden“, so die Soziologin.

Die ursprünglichen Pläne des Forschungsteams gingen jedoch nur bedingt auf, da Restriktionen aufgrund der Covid-19 Pandemie während der Schaffensphase eingehalten werden mussten. „Wir wechselten auf Online-Treffen, das war für das Musikteam besonders herausfordernd, da gemeinsames Musizieren so nicht wirklich stattfinden konnte“, erinnert sich Michael Parzer. Beim Literaturteam hatte das etwas weniger Auswirkungen. So gab es ein gemeinsames Google-Doc, an dem geschrieben wurde und auf das auch die Wissenschafter*innen Zugriff hatten. „Ich konnte quasi live mitverfolgen, wie sich der Text entwickelt“, berichtet Ana Mijić. „Ich konnte sehen, wie Sätze geschrieben, wieder gelöscht, und geändert wurden.“ Auch beim Fotografieteam konnten die Diskussionen – dank der von den Künstler*innen eingerichteten WhatsApp-Gruppe – auch ohne physische Treffen sehr gut mitverfolgt werden.

Übersetzen und Ankommen

Während dieser transdisziplinären Zusammenarbeit fanden diverse Übersetzungsleistungen auf mehreren Ebenen statt. Zum einen gab es einen intensiven Austausch zwischen soziologischen und künstlerischen Perspektiven. Darüber hinaus fanden aber auch Übersetzungen zwischen den unterschiedlichen Kunstsparten selbst statt. Diese Kommunikationsprozesse trugen stark dazu bei, die unterschiedlichen Bedeutungen des Ankommens sichtbar zu machen. „Ankommen ist zwar ohnehin schon ein breiter Begriff, aber zu sehen, welche Facetten da im Zuge der künstlerischen Prozesse aufgemacht werden, war sehr bereichernd. Plötzlich ging es nicht nur um Ankommen im Kontext von Fluchtmigration, sondern auch um Ankommen im Projekt und in der künstlerischen Arbeit“, so Parzer.

Das Ankommen im Projekt war für die Künstler*innen auch insofern eine neue Herausforderung, als dass es ein von den Wissenschafter*innen artifiziell geschaffener Prozess war. Zwar gab es keine Vorgaben, wie gearbeitet werden oder was entstehen sollte. Dennoch wurden die Teams von den Forschenden zusammengestellt, wodurch mitunter sehr unterschiedliche ästhetische Vorstellungen aufeinandertrafen. Auch das Beobachten des Prozesses durch Soziolog*innen war eine ungewöhnliche Erfahrung für die Kunstschaffenden.

„Alles in allem haben wir den Eindruck, dass es trotz des artifiziellen Settings eine bereichernde Erfahrung für die Künstler*innen war“, reflektiert die Forscherin Mijić. Auch beobachteten die Wissenschafter*innen, dass großes Interesse seitens der Künstler*innen an soziologischen Perspektiven auf Ankommen, und wie diese Auffassungen mit künstlerischen Perspektiven verknüpft werden könnten, da war. „Während des Schaffungsprozesses war das Miteinander zwischen den Kunstschaffenden wirklich sehr freundschaftlich, respektvoll und enthusiastisch. Wir haben gemerkt, dass ein intrinsisches Interesse an der Thematik da war, und die Künstler*innen sich gerne damit auseinandergesetzt haben“ so Ana Mijić.

Die Autorin Mascha Dabić, die Teil des Literaturteams war, beschreibt ihre Erfahrungen als Teil des transdisziplinären Forschungsteams als sehr bereichernd und spannend. „Im Schreibprozess haben wir uns innerhalb des Teams sehr gut kennengelernt. Ich empfand das gemeinsame Arbeiten sowohl menschlich als auch künstlerisch bereichernd. Wir konnten uns gewissermaßen hochschaukeln und haben radikalere literarische Lösungen gewählt, als ich mich alleine getraut hätte“. Darüber hinaus war der durch die Soziolog*innen geschaffene Rahmen ein ganz anderer. „Im literarischen Schaffen geht es in der Regel letztlich auch immer um den kommerziellen Erfolg des Geschriebenen, das war hier ganz anders, da es einfach um Explorationen eines Themas ging. Den Blick der Soziolog*innen auf unser Schaffen empfand ich als sehr wohlwollend, wertschätzend und interessiert. Das war sehr befreiend“, erinnert sich die Künstlerin.

Kunst bringt größeres Publikum, an das Wissen kommuniziert werden kann

Auch bei der Verbreitung des im Zuge des Forschungsprojektes entstandenen Wissens erwies sich die Einbindung der Kunst als Türöffner. „Im Juni 2023 fand im Literaturhaus eine Veranstaltung statt, wo es nicht nur um die wissenschaftlichen Ergebnisse, sondern auch um die Präsentation der Kunstwerke ging“, erzählt Michael Parzer. Es wurden verschiedene Musikstücke vorgeführt, es gab eine Lesung der Kurzgeschichte und auch die Fotografien wurden gezeigt. „Durch die Einbindung von Kunst ist es möglich, ein viel breiteres Publikum anzusprechen, und das auch auf eine andere Art und Weise“, erläutert der Soziologe weiter. Darüber hinaus wurden die Wissenschafter*innen auch zu einem Vortrag auf der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien eingeladen, und erreichten auch hier ein Publikum, welches ansonsten schwerer zu adressieren gewesen wäre. Durch dieses Projekt konnte nicht nur der Raum für eine breite Kommunikation transdisziplinären Wissens geöffnet werden, auch gelang es den Soziolog*innen ihre eigenen Sichtweisen im Hinblick auf „Ankommen“ durch vielfältige Blickwinkel zu erweitern. (ht)

Eckdaten zum Projekt

  • Projekttitel: The Art of Arriving. Reframing “Refugee Integration”
  • Laufzeit: 04/2021 – 03/2024
  • Projektteam: Michael Parzer, Ana Mijić, Liza Zolotarova, Olena Tkalich, Lisa Bock
  • Beteiligte und Partner*innen: Orwa Alshoufi, Sigrid Horn, Irina Karamarović, © Linda Zahra, Christina Werner, Miro Kuzmanović, Hamed Abboud, Anna Baar, Mascha Dabić
  • Institut: Institut für Soziologie
  • Finanzierung: FWF – Der Wissenschaftsfonds.

 Publikationen

  • Ana Mijić / Michael Parzer/ Olena Tkalich / Yelyzaveta Zolotarova (2024): Experiencing Forced Migration: Challenges of Arriving after Displacement from Ukraine. In: Journal of Ethnic and Migration Studies, online first: https://doi.org/10.1080/1369183X.2024.2323666.
  • Ana Mijić / Michael Parzer (2022): The Art of Arriving: A New Methodological Approach to Reframing “Refugee Integration”. In: International Journal of Qualitative Methods (IJQM), Vol. 22, 1–9. https://doi.org/10.1177/16094069211066374.
  • Ana Mijić / Michael Parzer (2023): Refugees’ Arriving through the Lens of Fiction: Unveiling the Ambivalences of Hegemonic Expectations. In: Arts 12(2) Special Issue Arts and Refugees: Multidisciplinary Perspectives (Vol. 2). Ed. Elsa Mescoli and Marco Martiniello. https://doi.org/10.3390/arts12020055.
  • Michael Parzer / Ana Mijić (2023): Continuity or Change? How Migrants’ Musical Activities (Do not) Affect Ethnic Boundaries. In: Sievers, Wiebke (ed): Cultural Change in Post-Migrant Societies: Re-imagining Communities Through Arts and Cultural Activities. IMISCOE Research Series. Cham: Springer, S. 39–58. Online verfügbar unter: https://doi.org/10.1007/978-3-031-39900-8_3.
  • Olena Tkalich / Yelyzaveta Zolotarova (2023): Not like a fish in water: how we listened to the experiences of Ukrainian refugees and learned about ourselves: https://commons.com.ua/en/grupovi-diskusiyi-ta-dosvid-emigraciyi/.
  • Forschen an der Schnittstelle von Soziologie und künstlerischer Praxis. Ein Expert*inneninterview mit Ana Mijić und Michael Parzer, geführt von Veronika Riedl: https://www.budrich-journals.de/index.php/Soz/article/view/42958.

 Weiterlesen