Sozialwissenschaftliche Forschung in Kriegsgebieten
Überblick
- Demonstrationen von 2011 führten zu einem bis heute anhaltenden Krieg in Syrien, der die größte Bevölkerungsflucht unserer Zeit zur Folge hatte.
- Das Projekt „KnowWar“, finanziert von der Austrian Development Agency, beleuchtet Entwicklungsaufbau und Wiederaufbau in Syrien sowie Formen der Solidarität zwischen verschiedenen marginalisierten Communities im angrenzenden Libanon.
- Bestehende sozialwissenschaftliche Ansätze und Methoden der Feldforschung werden im Zuge dessen neu gedacht: Sind sie für Konflikt- und Kriegsgebiete geeignet?
Acht Jahre Krieg in Syrien haben hunderttausende Menschen das Leben gekostet, Millionen aus ihrer Heimat vertrieben und weite Teile des Landes zerstört. Während die kriegerischen Auseinandersetzungen anhalten, sind die Debatten um den Wiederaufbau bereits in vollem Gange. Das transdisziplinäre Projekt „KnowWar“ untersucht die Verbindungsstränge zwischen Kriegsführung, Flucht, internationalen Hilfsprogrammen und Wiederaufbaubemühungen sowie die Auswirkungen auf den angrenzenden Libanon.
Die Protestbewegungen gegen die Regierung von 2011 mündeten in Syrien in einen bis heute anhaltenden Krieg, der mittlerweile unter Beteiligung internationaler Staaten ausgetragen wird. Eine Folge der kriegerischen Auseinandersetzung war die wohl größte Fluchtbewegung der jüngsten Geschichte: Rund 4,8 Millionen registrierte Geflüchtete suchten vor allem in den angrenzenden Nachbarländern Schutz. Helmut Krieger vom Institut für Internationale Entwicklung und seine internationalen Forschungskolleg*innen unternehmen im Projekt „KnowWar“ eine Analyse des Krieges in Syrien an der Schnittstelle von Kriegsführung, Flucht und Wiederaufbau: „Wir verstehen Wiederaufbau nicht nur als technischen Prozess, der Aspekte wie Kanalisation, Zugang zu Wasser oder die Errichtung von Schulen einschließt, sondern grundsätzlich auch als sozialen Prozess. Durch Kriegsführung und damit einhergehende Vertreibungspolitik wird eine neue soziale Basis geschaffen. Der syrische Wiederaufbau, der seit ungefähr drei Jahren debattiert wird, ist kein inklusiver, denn die Perspektiven von Geflüchteten werden nicht integriert“, so Krieger.
Welche alternativen Formen solidarisch-ökonomischen Handelns und Verhandelns möglich sind, um einen inklusiven Wiederaufbauprozess im Sinne einer solidarity economy (Anm.: Solidarische Ökonomie ist eine Form des Wirtschaftens, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt) anzustoßen, beschäftigt aktuell vor allem die syrischen Kolleg*innen innerhalb des Projekts, ergänzt Krieger.
Wir versuchen, in ‚KnowWar‘ die Grenzen zwischen Forschenden und Beforschten zu durchbrechen – auch methodisch. Das ist noch kein abgeschlossener Prozess.
Die Forscher*innen verfolgen mit „KnowWar“ auch ein methodologisches Ziel – die bestehenden sozialwissenschaftlichen Ansätze auf den Prüfstand stellen. Das Team geht davon aus, dass das sozialwissenschaftliche Methodeninventar in Kriegs- und Krisengebieten nicht adäquat ist, so Krieger, und verweist auf dessen „Wirkmächtigkeit“: „Mit Fragebögen oder Interviews werden die Lebensverhältnisse der ‚Beforschten‘ erhoben, das generierte Wissen wird der scientific community zugänglich gemacht, und aufbauend darauf werden Politikempfehlungen formuliert. Dadurch entsteht Distanz und gewissermaßen eine Hierarchisierung zwischen Forschenden und Beforschten. Damit werden existente Machtasymmetrien reproduziert.“
Um dem entgegenzuwirken, setzt sich das Projektteam von „KnowWar“ nicht nur aus Wissenschafter*innen, sondern auch aus Praxisvertreter*innen zusammen, die in NGOs, sozialen Initiativen oder im aktivistischen Bereich tätig und im Lokalen verankert sind. „Die Kolleg*innen vor Ort sind nicht nur diejenigen, die in die Communities gehen und mit Leuten sprechen, sie entwickeln und konzipieren gemeinsam mit uns die Fragestellungen in Workshops oder regelmäßigen Skype-Besprechungen.“
Wir arbeiten an der Entwicklung transdisziplinärer Methoden, die ein kritisches Verständnis der Diskurse in Krisen- und Kriegsgebieten ermöglichen.
Die Transdisziplinarität birgt aber auch Herausforderungen, denn alle Teammitglieder bringen unterschiedliche Denkfiguren und Herangehensweisen mit. „Wir haben anfänglich lange Diskussionen um den Begriff Community geführt. Für die Kolleg*innen aus den NGOs meinte dieser die unterschiedlichen Personengruppen. Für uns war dieser Begriff jedoch widersprüchlich, ist er doch normativ aufgeladen und kann Ausschluss produzieren. Wir haben uns darauf geeinigt, ihn weiterhin zu benutzen, jedoch auf eine reflektierte und nicht essentialisierende Art und Weise.“
Wie leben und überleben die Geflüchteten im Libanon? Welche informellen Netzwerke haben sie sich aufgebaut?
Ein weiterer Aspekt des Projekts behandelt die „Ausstrahlungen des Krieges“ auf den Libanon: Der Mittelmeerstaat in Vorderasien umfasst eine Gesamtbevölkerung von 4,5 Millionen Menschen, die ökonomische und politische Situation gilt als schwierig. Seit Kriegsbeginn sind schätzungsweise rund 1,5 Millionen Syrer*innen in den angrenzenden Libanon geflüchtet. „Wir schauen in ‚KnowWar‘ aber nicht nur auf die syrischen Geflüchteten, sondern auch auf die palästinensischen Communities, die seit 1948 im Libanon leben, sowie andere marginalisierte Gruppen – gibt es einen solidarischen Austausch?“ Um diese Fragen zu beantworten, führt das Team an vier verschiedenen Orten im Libanon Feldforschung durch.
Die erste explorative Phase konnte kürzlich abgeschlossen werden: „Wir haben zunächst versucht einzuschätzen, was die Menschen beschäftigt und welche gemeinsamen Formen existieren, um die Krise zu bewältigen“, berichtet Krieger. Das Ergebnis: Nachbarschaftsinitiativen spielen eine entscheidende Rolle. Dort finden Menschen Unterstützung, es findet aber auch Informations- und Wissensweitergabe statt: Wer weiß etwas über die Situation in den verschiedenen syrischen Gebieten, welche Perspektiven für die Rückkehr gibt es und wie kann das Leben im Libanon organisiert werden? Diese informellen Netzwerke ermöglichen das Überleben unter härtesten Bedingungen und erlauben es auch, gemeinsam Formen des Protests zu entwickeln, so Krieger.
In den Erzählungen der Betroffenen werden aber auch die Schwierigkeiten im Libanon deutlich: Unter den Geflüchteten herrscht Konkurrenz um nicht-formalisierte Arbeitsverhältnisse, begrenzten Wohnraum und Unterstützungsleistungen von internationalen Organisationen. Darüber hinaus existieren innerhalb von Netzwerken auch klar gegenderte Strukturen und Formen der Exklusion – je nach Geschlecht, Nationalität, Herkunftsregion oder konfessioneller Zugehörigkeit. Dieser Widerspruch zwischen Formen solidarischen Handelns und Exklusionsmechanismen ist entscheidend im Verständnis von informellen Netzwerken.
Trainingsprogramm
Im Rahmen von „KnowWar“ entsteht ein Trainingsprogramm für syrische Studierende, die dafür nach Beirut kommen oder bereits im Libanon sind, sowie für Geflüchtete aus Palästina. Im Fokus steht die Vermittlung und Exploration alternativer Forschungsmethoden. Der erste Durchgang startet im Februar 2020. Studierende und Wissenschafter*innen der Universität Wien werden in Form von Skype-Konferenzen und Tandembildung für den Forschungsaustausch ebenso involviert sein.
Die Rückkopplung der Ergebnisse in die Communities ist ein systematischer Teil des Forschungsprozesses.
Das generierte Wissen aus „KnowWar“ soll den Betroffenen zugänglich gemacht werden. Geplant sind Veranstaltungen in den jeweiligen Communities, in denen sich das Projektteam selbst und seine Forschung zur Disposition stellt. „Wir können nicht einfach hingehen, etwas abfragen und dann wieder gehen – wir haben einen Prozess angestoßen, der auch jenseits des Projekts weitergehen wird.“ (hm)
Eckdaten zum Projekt
- Titel: “Knowledge Production in Times of Flight and War – Developing Common Grounds for Research in/on Syria” (“KnowWar”)
- Laufzeit: 12/2018 – 11/2021
- Beteiligte: Helmut Krieger (Projektleitung) Petra Dannecker, Klaudia Rottenschlager (zum gesamten Team)
- Institut: Institut für Internationale Entwicklung
- Projektpartner: Center for Development Studies (CDS), Birzeit University, Westbank; Mousawat, Beirut; Syrian Center for Policy Research, Beirut; Zentrum für Friedensforschung und Friedensbildung, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
- Finanzierung: Austrian Development Agency (ADA)