Schwarzweißbild: eine Kinderhand greift in eine halb geschlossene Erwachsenenhand mit lackierten Fingernägeln

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Die Theorie des Palliativwesens

Überblick

  • In der Hospiz- und Palliativversorgung existieren über lange Zeit gewachsene, gut funktionierende Praktiken.
  • Aus dem Wunsch nach Evaluierung entstand eine detaillierte Programmtheorie, die weltweit Vorbildwirkung entfalten könnte.
  • Das Pflegewesen steht unter immensem Legitimationsdruck. Eine der Praxis zugrunde liegende Theorie kann helfen, diesen zu lindern.

In der österreichischen Hospiz- und Palliativversorgung geschieht viel, aber nur das Wenigste davon in theoriegeleiteter Form. Ein Team des Instituts für Pflegewissenschaft hat nun eine Programmtheorie des Palliativwesens für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene entwickelt.

Am Anfang überwog die Skepsis. Auf Seiten der Auftraggeber*innen wie der Auftragnehmer*innen. „Vor einiger Zeit trat die NÖGUS, der niederösterreichische Gesundheits- und Sozialfonds, an uns heran“, erinnert sich Martin Nagl-Cupal vom Institut für Pflegewissenschaft der Universität Wien. „Es ging darum, die niederösterreichische Hospiz- und Palliativversorgung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zu evaluieren.“ Nun haben Universitätsinstitute immer wieder Vorbehalte, wenn sie Evaluierungen durchführen, sprich: Auftragsforschung betreiben sollen. Sie ist häufig wenig kreativ, und immer wieder treten Diskrepanzen zwischen den Erwartungen der Auftraggeber*innen und den Befunden der Forscher*innen auf. Auch das Institut für Pflegewissenschaft war zunächst wenig enthusiastisch. Doch dann schlug Nagl-Cupal dem NÖGUS eine theoriegeleitete Evaluierung vor. „Wir haben angeboten, für das Hospiz- und Palliativwesen eine Programmtheorie zu entwickeln, auf deren Basis künftige Evaluierungen stattfinden können“, erzählt er. „Ich glaube, anfangs konnten sich die Auftraggeber darunter nicht allzu viel vorstellen, aber sie haben letztlich doch zugestimmt.“

Es passiert viel, aber niemand weiß genau, was. Es funktioniert viel, aber niemand weiß genau, warum

Der NÖGUS, so viel ist vorab wichtig zu wissen, ist gewissermaßen die „Eintrittsstelle ins niederösterreichische Gesundheitssystem“, erläutert Nagl-Cupal. Der Gesundheitsfonds, eine öffentlich-rechtliche Einrichtung mit eigener Rechtspersönlichkeit unter Aufsicht der niederösterreichischen Landesregierung, ist die zentrale Schaltstelle für das niederösterreichische Gesundheitssystem. Er betreibt Krankenhäuser, Pflegeheime und verschiedene andere Institutionen, verteilt aber auch Leistungen. Unter anderem ist der NÖGUS für die Hospiz- und Palliativversorgung im Land zuständig. Diese ruht in Niederösterreich auf drei Säulen: Die pädiatrischen Palliativbetten im Landesklinikum Mödling und zwei mobile Dienste, nämlich das KI-JU-PALL-Team im Rahmen der mobilen Kinderkrankenpflege MOKI und das Hospizteam für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene (HoKi) des Landesverbandes Hospiz Niederösterreich. Es existieren in diesem System also, wie andernorts auch, komplexe, über die Jahre gewachsene Strukturen, die großteils gut funktionieren, aber niemand kann genau sagen, warum. Wenn Aussagen darüber getroffen werden sollen, welche Kriterien eine gute Hospiz- und Palliativversorgung konstituieren, stößt man zumeist auf Vokabeln wie „Lebensqualität“ oder „Wohlbefinden“. „Aber auf Basis welcher Parameter messe ich die Erhöhung von Lebensqualität?“, fragt Nagl-Cupal rhetorisch. „Wir wissen meistens nicht genau, was wir warum und in welchem Ausmaß tun, wenn wir die Lebensqualität der kranken Menschen und ihrer Familien verbessern wollen. Wir wissen nur: Das, was wir da machen, ist ganz o.k.“

Doch es könnte nützlich sein, die Hebel zu kennen, die bestimmte Parameter verändern, wenn man denn verändern will: Was wirkt in einem System und warum? „Auf theoretischer Ebene ist das alles viel zu wenig ausgearbeitet und beschrieben“, sagt Nagl-Cupal. Dieses Manko wollten er und sein Team beheben. Die Studie wurde Ende Juni 2021 finalisiert und dem Auftraggeber überreicht. „Wir haben somit eine theoretische Grundlage geschaffen, mit der wir alles evaluieren können, was auf dem Gebiet der Hospiz- und Palliativversorgung für Kinder und Jugendliche geschieht. Doch es war keine empirische Forschung im strengen Sinn.“

Wir versuchen die Entwicklung eines Programms theoretisch zu rekonstruieren, das schon lange etabliert ist

Nagl-Cupal und sein Team waren in der glücklichen Situation, sich ausführlich und detailliert der Entwicklung der Programmtheorie widmen zu können. Diese formuliert, in aller Kürze, ein System von begründeten und konsistenten Aussagen über die vermuteten – oder in diesem Fall: etablierten – Wirkungspfade und Wirkungsmechanismen eines sozialen Programms. „Wir haben versucht, die Entwicklung eines Programms theoretisch zu rekonstruieren, das schon lange etabliert ist“, beschreibt Nagl-Cupal den Forschungsprozess. „Dazu haben wir uns anfangs mit den Basisdokumenten auseinandergesetzt, den Grundlagen, den Verordnungen, den Regeln: Was ist denn schon alles beschrieben, welche Standards, welche Regeln existieren? Danach haben wir lückenlos die Personen identifiziert, die das ganze System entworfen haben. Mit diesen neun Menschen haben wir sehr lange Interviews geführt, weil wir wissen wollten, warum sie bestimmte Dinge gemacht und was sie sich dabei gedacht haben.“

Im Anschluss an diese Interviews führten die Forscher*innen Workshops mit den Praktiker*innen der Hospiz- und Palliativversorgung durch. „Die Praktiker*innen sollten so präzise wie möglich erzählen, was sie im Rahmen ihrer Tätigkeit tun und welche Outcomes oder welchen Output sie beobachten“, erinnert sich Nagl-Cupal. Erster Fokus des Forschungsinteresses war gewissermaßen die Phänomenologie des Hospiz- und Palliativwesens. Der nächste Schritt bestand darin, eine Verbindung zwischen Intervention und Resultat herzustellen – „Ereignisketten zu schmieden“, erklärt Nagl-Cupal. „Das war für die Teilnehmer*innen der schwierigste Teil. Sie wissen, dass das, was sie tun, wirkt – aber beschreib das einmal in neutralen Worten.“

5 Frauen posieren nebeneinander vor einer Pinwand mit viele roten und blauen Karteikarten die mit vielen grünen Fäden miteinander verbunden sind

Workshop mit KI-JU-PALL Team (Kinder- und Jugendpalliativteam) von MOKI NÖ (Mobile Kinderkrankenpflege Niederösterreich) zur Aufdeckung von auf Ursache und Wirkung beruhender Zusammenhänge von Maßnahmen in der Hospiz- und Palliativversorgung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. © Martin Nagl-Cupal

Schließlich begann die konzeptuelle Arbeit der Entwicklung der Programmtheorie. Die Forscher*innen entwickelten Hypothesen und Modelle, reflektierten, verwarfen, überarbeiteten, führten Gedankenexperimente durch, verglichen ihre Thesen mit der einschlägigen Literatur, verwarfen erneut, überarbeiteten ein weiteres Mal. „Da brauchst du wirklich hohe Frustrationstoleranz und auch Zeit“, betont Nagl-Cupal. „Erst nach der sechsten oder siebten Reflexionsschleife oder Iteration waren wir dort, wo wir hinwollten.“

Die Pflege steht ganz allgemein unter immensem Legitimationsdruck. Den haben wir versucht zu verringern

„Wir wissen: Alles, was wir in der Pflege tun, ist komplex“, erläutert Nagl-Cupal die Ausgangssituation. „Es macht einen Unterschied, ob eine leidenschaftliche oder eine schlecht gelaunte Pflegekraft eine Familie betreut, die ein palliatives Kind hat. Was Pflege tut, ist ganz einfach nicht im Labor messbar. Es gibt keine Standard-Intervention. In der Hospiz- und Palliativversorgung ist jeder Fall anders, aber was macht dieses Anders aus? Jede Intervention ist komplex, und ich muss sie in ihren Grundbestandteilen beschreiben, um sie evaluierbar zu machen. Damit versuchen wir auch, den immensen Legitimationsdruck der Standardisierbarkeit von Handlungen zu verringern, unter dem Pflege ganz generell und in diesem Setting speziell steht.“

Eine Programmtheorie hat im Regelfall zwei Bestandteile, eine theory of action und eine theory of change. Mithilfe Ersterer wird etwa beschrieben, was im System geschieht, wer die Akteur*innen sind, welche Ausbildungen diese Akteur*innen haben, wie die Koordination der unterschiedlichen Dienste – konkret etwa: Schmerz- und Therapiemanagement, Edukation, Beratung, direkte Pflege – funktioniert. Mit dem Change-Modell hingegen wollen die Forscher*innen analysieren, was die jeweiligen Maßnahmen bewirken und auf welche Weise sie dies tun. Ein Beispiel: Um eine Familie zu beraten, muss die Hospizbegleiterin eine partnerschaftliche, auf Vertrauen basierende Beziehung zu dieser Familie aufbauen. Durch die Beratung wird die familiäre Resilienz gestärkt, dies führt zur Ermächtigung aller Familienmitglieder, und am Ende steht zum Beispiel eine höhere Lebensqualität für alle Beteiligten. Doch erst durch die dichte Beschreibung werden die Kausalketten sichtbar. „Man könnte das auch weniger komplex machen und behaupten, palliative Betreuung führt zwangsläufig zu höherer Lebensqualität, aber das bringt uns weder auf der Analyse- noch auf der Evaluierungsebene weiter“, erklärt Nagl-Cupal. „Ich brauche messbare Zwischenstationen, aber diese wiederum müssen erst erarbeitet und definiert werden, damit ich weiß, auf welchen verschlungenen Pfaden ich zum Ziel der Lebensqualität komme. Tun wir das nicht, akzeptieren wir zwischen dem, was wir tun, und dem, was passiert, eine Blackbox, über die wir keine Aussage treffen können.“

Nagl-Cupal ist sehr zuversichtlich, dass das Projekt auch international Vorbildwirkung entfalten könnte, weil die Prozesse noch nie in dieser Detailliertheit ausbuchstabiert wurden. „Wir haben theoretische Begrifflichkeiten an die Praxis herangeführt. Dadurch wird auch die Evaluierung in Zukunft viel einfacher, und tatsächlich ließe sich unser Modell auch auf die anderen österreichischen Bundesländer übertragen, in denen die palliative Versorgung von Kindern und Jugendlichen ähnlich läuft.“

Für die am Forschungsprozess teilnehmenden Praktiker*innen brachte die Entwicklung der Programmtheorie unmittelbaren Nutzen. „Wir konnten am Ende klare Bilder zeichnen: Das alles tut ihr, und das hat folgende und folgende Wirkung. Einerseits war ihnen das eh klar, andererseits hatte das noch nie irgendjemand ausformuliert“, sagt Nagl-Cupal. Das Projektergebnis entfaltete unmittelbar entlastende Wirkung. „Die Praktiker*innen haben nun eine Beschreibung ihres Handlungsfeldes in der Hand, mit der sie ihr Tun jederzeit rechtfertigen können. Außerdem wissen sie jetzt, welche Hebel sie drücken müssen, damit das, was sie wollen, auch bei den Familien und Kindern ankommt. Das ist schon ein großer praktischer Mehrgewinn.“ (tg)

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: Entwicklung einer Programmtheorie zur Evaluation der Hospiz- und Palliativversorgung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in Niederösterreich
  • Laufzeit: 03/2020–05/2021
  • Institut: Institut für Pflegewissenschaft
  • Projektteam: Martin Nagl-Cupal (Leitung), Daniela Haselmayer, Martin Wallner, Maximilian Weissengruber, Hanna Mayer
  • Finanzierung: NÖGUS – Niederösterreichischer Gesundheits- und Sozialfonds