Eine weiße Medikamentendosierungsschachtel mit blauer Schrift

Medikamentenplan © Egon Häbich / pixelio.de

In aller Munde

Ãœberblick

  • Die Verordnung von Medikamenten stellt eine der häufigsten therapeutischen Maßnahmen dar.
  • Für die richtige Einnahme von Medikamenten sind Wissen und verschiedene Kompetenzen notwendig, dabei handelt es sich um einen bestimmten Aspekt der sogenannten Gesundheitskompetenz (Health Literacy).
  • Die Steigerung der Health Literacy in der Bevölkerung wurde 2012 als eines der zehn Rahmengesundheitsziele für Österreich festgelegt.

Medikamente besorgen und verstehen, die regelmäßige Einnahme in den Alltag integrieren, den eigenen Körper beobachten und die Therapie aufrechterhalten – für die richtige Medikamenteneinnahme braucht es Selbstmanagement. Welche Strategien betroffene Personen dafür anwenden, stand im Mittelpunkt eines Forschungsprojekts von Pflegewissenschafterinnen um Hanna Mayer.

Rund 49 Prozent aller ÖsterreicherInnen nehmen regelmäßig Medikamente ein (Statistik Austria, 2015). Was diese Personen gemeinsam haben: Sie wenden Strategien an, um die Medikamenteneinnahme zu erleichtern und im Alltag zu bewältigen. Hanna Mayer, Johanna Breuer und Melanie Mattes – allesamt Pflegewissenschafterinnen an der Fakultät für Sozialwissenschaften – interessierten sich in „Medikamente in aller Munde – Ein Projekt zur Stärkung der Health Literacy in Bezug auf Medikamentenselbstmanagement im Alltag (MEDIcAL)“ für genau diese Strategien.

 Wie meistern Menschen die regelmäßige Medikamenteneinnahme im Alltag und was können wir daraus lernen?

Das Projekt „MEDIcAL“ folgte damit dem Grundsatz der Responsible Science: die Gesellschaft aktiv in Forschungs- und Innovationsprozesse einbinden, um die aktuellen Herausforderungen im Einklang mit den Bedürfnissen der Gesellschaft zu bewältigen. „In ‚MEDIcAL‘ konnten Betroffene ihre Perspektive auf verschiedenen Ebenen einbringen und wurden damit zu Mitforschenden. In einer Workshopreihe mit PatientInnen und Pflegepersonen/-expertInnen haben wir einen halbstrukturierten Fragebogen mit offenen Fragen erarbeitet – darin sind ihre Erfahrungen direkt eingeflossen“, berichtet Projektmitarbeiterin Melanie Mattes.

Die TeilnehmerInnen für die Befragung wurden von dem dreiköpfigen Forscherinnenteam über ganz unterschiedliche Zugänge angesprochen: über den Praxispartner im Projekt, die Privatklinik Rudolfinerhaus, aber auch über Anzeigen in Zeitungen, Kontakte zu PensionistInnenclubs, Selbsthilfegruppen, über Facebook oder einen Aufruf auf einschlägigen Websites. Der Fragebogen stand sowohl als traditionelle Paper-Pencil-Version als auch online zur Verfügung. Die Bereitschaft zur Teilnahme war hoch: In kurzer Zeit füllten insgesamt 447 Personen die Fragebögen aus (235 online und 212 auf Papier). „Viele Menschen müssen regelmäßig Medikamente einnehmen, das Thema ist nicht zuletzt deswegen für viele Personen von Relevanz“, schlussfolgern die Wissenschafterinnen: „Es ist auch nicht unbedingt eine Frage des Alters – die Alterspanne der TeilnehmerInnen reichte von 18 bis 97 Jahren.“

 Theoretische Grundlagen vertiefen

Auch wenn das Medikamentenselbstmanagement große Teile der Bevölkerung betrifft, herrscht in der Theorie ein regelrechtes Desiderat. Als eines von wenigen widmet sich ein von Bailey et al. (2013) entwickeltes Modell dem Thema und benennt sechs zentrale Schritte: Besorgen, Verstehen, Integrieren, Einnehmen, Selbstbeobachten und Aufrechterhalten. „Zu allen Schritten des Modells haben wir Strategien erhoben – beispielsweise wählen manche PatientInnen spezielle Apotheken zur Besorgung und Beratung aus, andere benötigen gar keine Informationen zu ihren Medikamenten“, erklären die Pflegewissenschafterinnen.

 Es steckt viel Individualität im Prozess

In „MEDIcAL“ konnten die Pflegewissenschafterinnen feststellen, dass sich das Medikamentenselbstmanagement in der Praxis sehr viel komplexer darstellt, als es von Bailey et al. modelliert wurde. „Auch Faktoren wie Gesundheitsverhalten oder soziales Umfeld haben einen Einfluss“, erklärt Hanna Mayer: „Die im Modell nacheinander geschalteten Schritte, die in einem einfachen Regelkreis angeordnet sind, wirken vielmehr prozesshaft aufeinander und bedingen sich gegenseitig. Zudem konnten wir einen weiteren Schritt identifizieren: Reagieren. Wenn beispielsweise die Medikamente nicht anschlagen, reagieren Menschen entsprechend, brechen die Einnahme ab und/oder besprechen es mit ihrem Arzt und es wird gegebenenfalls auf ein anderes Medikament zurückgegriffen.“

 Nicht nur die Strategien, die Profis empfehlen, sind erfolgreich

Die Vielfalt an persönlichen Strategien sind nicht immer „aus dem Lehrbuch, können aber in gewissen Fällen dennoch zum Erfolg führen“, berichten die Wissenschafterinnen. „In Bezug auf das Assessment bedeuten die Ergebnisse, dass ÄrztInnen, Pflegepersonal oder ApothekerInnen die individuelle Situation der PatientInnen unter Bezugnahme auf die einzelnen Komponenten des Prozesses erfragen und ihren Kontext berücksichtigen müssen. Es braucht eine flexiblere und darauf zugeschnittene Beratung.“

Die im Projekt gewonnenen Erkenntnisse spielen Hanna Mayer und ihre Forschungskolleginnen in das Feld zurück: Geplant sind die Entwicklung einer Informationsbroschüre unter Einbezug von Betroffenen für Personen, die Medikamente nehmen, aber auch die Entwicklung von Verfahren (z. B. ein Assessment in Bezug auf das Medikamentenselbstmanagement) und Beratungstools für PraktikerInnen, die im medizinischen oder pflegerischen Bereich tätig sind. „Über Multiplikatoren kommt unsere Forschung bei denen an, die es betrifft, und das kann etwas in der Gesellschaft verändern, nämlich den Umgang mit Medikamenten erleichtern.“

 Ein anderes Bild von Wissenschaft

Im Zuge des Forschungsprozesses stießen die Pflegewissenschafterinnen oftmals auf Verwunderung seitens der Bevölkerung. „Viele waren überrascht, dass wir uns für ihre Perspektive interessierten, dass ihre Probleme für die wissenschaftliche Arbeit relevant und wichtig sind. Es herrschte das Bild vor, dass Wissenschaft separat von der Gesellschaft stattfindet – das konnten wir durch den wechselseitigen Austausch ein Stück weit geraderücken. Personen, die nicht aus der Wissenschaft kommen, gewannen einen Blick hinter die Kulissen der universitären Forschung. Das hat ihre Sicht auf Wissenschaft und Wissensproduktion geändert – das wiederum hat einen Impact auf die Gesellschaft.“

 Partizipation funktioniert nicht von selbst

Das Forschungsdesign von „MEDIcAL“ war auf Inklusion und Offenheit ausgerichtet, dennoch handelte es sich bei den TeilnehmerInnen der Fragebogenerhebung überwiegend um Personen mit einem hohen Bildungsabschluss. Es brauche unterschiedliche Zugänge und Methoden, um Diversität zu schaffen, mehr Ressourcen und vor allem mehr Zeit, resümieren die Wissenschafterinnen. Ein Projekt, das dem Responsible-Science-Ansatz folgt, würden sie jedoch wieder machen. „Um unserem Gegenstandsbereich – der Pflegewissenschaft – gerecht zu werden, können wir eigentlich gar keine Forschung machen, ohne die Perspektiven der Betroffenen miteinzubeziehen.“ (hm)

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: „MEDIcAL: Medikamente in aller Munde – Ein Projekt zur Stärkung von Medikamentenselbstmanagement im Alltag“
  • Laufzeit: 01.01.2017 – 28.02.2018
  • Beteiligte und PartnerInnen: Hanna Mayer, Johanna Breuer, Melanie Mattes, Andrea Smoliner (Ansprechpartnerin im Rudolfinerhaus)
  • Institut: Institut für Pflegewissenschaft
  • Finanzierung: BMWFW-Pilotprojekt im Rahmen der Initiative „Responsible Science“
  • Kooperationen: Privatklinik Rudolfinerhaus GmbH, Campus Rudolfinerhaus