Innereuropäische Migration verstehen
Überblick
- Im Projekt „REMINDER“ (Role of European Mobility and its Impacts in Narratives, Debates and EU Reforms) arbeiten 14 Forschungseinrichtungen zusammen, um die intraeuropäische Mobilität zu beleuchten.
- Die Universität Wien ist in „REMINDER“ mit einem fünfköpfigen Forschungsteam vertreten: Mit quantitativen, computergestützten Methoden analysiert es die politischen und medialen Narrative aus sieben Ländern im Zeitraum von 2003 bis 2017.
- Aus den empirischen Ergebnissen entstehen konkrete Handlungsanweisungen für JournalistInnen und politische EntscheidungsträgerInnen, welche die Diskurse maßgeblich beeinflussen und gestalten.
Im interdisziplinären EU-Projekt „REMINDER“ arbeiten mehrere Forschungseinrichtungen gemeinsam daran, Migration und Mobilität innerhalb Europas besser zu verstehen. Die Universität Wien ist mit einem Team um Kommunikationswissenschafter Hajo Boomgaarden vertreten, das sich die politischen und medialen Narrative der Jahre 2003 bis 2017 aus sieben Ländern analysiert. Entstehen sollen daraus konkrete Handlungsempfehlungen, die JournalistInnen und politische EntscheidungsträgerInnen für das Thema sensibilisieren.
Die Personenfreizügigkeit ist einer der Eckpfeiler der Europäischen Union. Sie gibt allen EU-BürgerInnen das Recht, in einem anderen europäischen Land zu leben und zu arbeiten. 1993 als Grundfreiheit beschlossen und rechtlich verankert, gerät die Personenfreizügigkeit aktuell unter Druck: EU-kritische und populistische Stimmen fürchten Verdrängungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt und als Folge einen Wohlstandsverlust für die BürgerInnen der Nationalstaaten.
Was an diesen Ängsten dran ist und wie diese medial aufgegriffen werden, wollen Hajo Boomgaarden, Jakob-Moritz Eberl, Sebastian Galyga, Tobias Heidenreich und Fabienne Lind vom Computational Communication Science Lab am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Fakultät für Sozialwissenschaften genau wissen. Im Auftrag der Europäischen Union untersuchen sie im Projekt „REMINDER“ (Role of European Mobility and its Impacts in Narratives, Debates and EU Reforms) gemeinsam mit 13 weiteren Forschungsinstitutionen die innereuropäische Mobilität auf zwei Ebenen: Zum einen erheben sie die reale Beschaffenheit und die Auswirkungen der innereuropäischen Migration, zum anderen analysieren sie die politischen und medialen Narrative und die öffentliche Meinung.
Die Diskussion um die Personenfreizügigkeit reflektierter führen
„Das Projekt soll dazu beitragen, dass die Diskussion um die Personenfreizügigkeit reflektierter geführt werden kann: Wie wichtig ist Migration für und innerhalb Europas und was geschieht dadurch eigentlich?“, erklärt Hajo Boomgaarden, Leiter des Teams am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Insgesamt gibt es im „REMINDER“-Projekt 13 Workpackages, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der innereuropäischen Mobilität befassen; in drei davon arbeitet das fünfköpfige Team aus Wien verstärkt mit. Im Forschungsfokus steht derzeit die Frage, wie Intra-EU-Migration in klassischen und sozialen Medien besprochen wird. Dafür untersuchen sie inhaltsanalytisch die Mediendiskurse zwischen 2003 und 2017 aus sieben Ländern – Schweden, Deutschland, Großbritannien, Spanien, Polen, Ungarn und Rumänien. „Wir sehen uns mehr als 50 Zeitungen, bis zu sieben Million Artikel pro Fragestellung und rund 800.000 Facebook-Posts auf 1700 PolitikerInnenprofilen an“, berichtet Jakob-Moritz Eberl, Postdoktorand im Projekt.
Uns interessiert das big picture
„Wir bearbeiten diese großen Mengen an Daten, um generalisierbare Aussagen über mehrere Länder im Laufe der Zeit treffen zu können. Uns interessiert das big picture“, sagt Jakob-Moritz Eberl. In Europa leben und bewegen sich nicht nur EuropäerInnen, sondern auch Menschen anderer Nationen. Migration als gesamtgesellschaftliches Phänomen und die Migration von EuropäerInnen getrennt voneinander zu betrachten, ist „ein schwieriges Unterfangen“, so das Projektteam. Herausgefunden haben die ForscherInnen, dass etwa acht Prozent aller Medienberichte zwischen 2003 und 2017 das Thema Migration zumindest anreißen, die innereuropäische Mobilität nimmt dabei jedoch einen verschwindend geringen Anteil ein.
Die Anzahl der Beiträge verändert sich anlassbezogen – so wurden Aspekte von Migration allgemein vor vier Jahren im Zuge der großen Fluchtbewegung stärker diskutiert (2015 wurde Migration in bis zu 70 Prozent aller Artikel in etwaiger Form thematisiert, so z.B. in Ungarn), analog war die innereuropäische Mobilität rund um die Osterweiterung 2004 oder die Europawahlen präsenter. Doch auch die Art und Weise, wie über Migration berichtet wird, unterscheidet sich: „Die Berichterstattung über Migration allgemein ist negativer und wird oftmals im Kontext von Kriminalität und Sicherheit besprochen. Das Framing fällt bei der Intra-EU-Mobilität deutlich positiver aus, wiederkehrende Themen sind Wohlfahrt und Chancen“, so die ForscherInnen. In der Tendenz gilt: In typischen Immigrationsländern wie Deutschland oder Schweden wird über Mobilität innerhalb der EU kritischer berichtet als in Staaten, aus denen tendenziell eher emigriert wird.
Die Sozialwissenschaften lehren uns, dass Sprache unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinflusst. Umso beunruhigender ist die Erkenntnis, dass in deutschen Medienberichten Migranten in der Berichterstattung quantitativ häufiger vorkommen als Migrantinnen (Migranten in 81–96 Prozent, Migrantinnen in 12–26 Prozent der Migrationsberichterstattung von 2003–2017). Die tatsächlichen Zahlen sind jedoch sehr ausgeglichen: „Je nachdem, welche Definition von Migrationshintergrund angewendet wird, finden wir z.B. in der deutschen Bevölkerung zehn Prozent Frauen und zehn Prozent Männer mit Migrationshintergrund“, so Fabienne Lind, Praedoc am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Mithilfe einer Wörterbuch-basierten Methode konnten computergestützt Worte und Phrasen aus den gesammelten Daten herausgelesen werden, die explizit Migrantinnen beschreiben. Mit dem Ergebnis: Wenn Frauen in Beiträgen genannt werden, dann oftmals in Relation zu anderen Personen (z.B. „meine Mutter“, „seine Schwester“). Männer dominieren auch – aber nicht ausschließlich – aufgrund des generischen Maskulins in der deutschen Sprache. „Die Genderdimension im Kontext von Migration wurde bis dato wenig untersucht, ist aber besonders wichtig“, so die Forscherin: „Immerhin geht es darum, wer repräsentiert wird und wer Bedürfnisse anmelden kann.“
Computergestützte Methoden
Im „REMINDER“-Projekt kommen computergestützte Methoden zum Einsatz. Bei der Wörterbuchmethode werden Worte bzw. Phrasen, die ein bestimmtes Konzept repräsentieren, gesammelt (siehe Abbildung: Auszug aus dem Wörterbuch zur Messung der Medienpräsenz von Migrantinnen). Das Topic Modelling bietet die Möglichkeit, einen Textkorpus thematisch zu untersuchen. Der sogenannte Topic-Modelling-Algorithmus identifiziert im Korpus Themen. Ein Thema ist dabei eine Gruppe von Wörtern, die in Texten in statistisch auffälliger Weise häufig zusammen vorkommen.
Ebenso werden im „REMINDER“-Projekt linguistische Phänomene unter die Lupe genommen: Aus einem Korpus an Artikeln wird automatisiert die Struktur der Sprache offengelegt, um „auf groß aggregierte Art und Weise kleinste sprachliche Phänomene analysieren zu können“, berichtet Projektmitarbeiter Sebastian Galyga. Es zeigte sich, dass bei der medialen Präsentation von Menschen mit Migrationshintergrund Otheringprozesse einwirken, die Abgrenzung von Personen(-gruppen), indem die nicht-eigene Gruppe als andersartig oder fremd beschrieben wird: „Individuen treten linguistisch in den Hintergrund, hervorgehoben werden homogenisierende und kollektive Eigenschaften einer Gruppe. Semantisch wird oftmals auf negative Zusammenhänge verwiesen – im näheren Feld werden Worte wie ‚Polizei‘ oder ‚Grenze‘ häufig genannt“, erklärt der Forscher.
In den sozialen Medien spiegeln sich die Ergebnisse aus den Analysen der klassischen Medien wieder: Intra-EU-Mobilität war in den letzten Jahren wenig präsent, Migration allgemein hingegen wurde – besonders im Kontext der Fluchtbewegung von 2015 – stark besprochen. „Interessant ist, dass Migration bei den Parteien des ideologischen Randes, sowohl rechts als auch links, verstärkt wahrgenommen und auch negativer diskutiert wird“, so Praedoc Tobias Heidenreich: „Feststellen lässt sich auch: Migrationsthemen auf sozialen Medien ziehen. Die Anzahl der Interaktionen bei entsprechenden Posts ist in den meisten Ländern sehr hoch.“
State-of-the-art-Methodik weiterentwickeln
„In ‚REMINDER‘ wenden wir State-of-the-art-Methodik an. Wir suchen neue Lösungsansätze und wollen damit auch ein Stück weit dazu beitragen, die Methoden weiterzuentwickeln“ erläutert Hajo Boomgaarden. Der Datenzugang in den sieben Ländern und die Mehrsprachigkeit des Materials stellten das Projektteam zunächst vor Herausforderungen. Mit der Hilfe von ErstsprachlerInnen und maschineller Übersetzung konnte letztgenannte Hürde nehmen und sicherstellen und so z.B. mit Suchbegriffen arbeiten, die für die unterschiedlichen Sprachen vergleichbare Ergebnisse hervorbringen. „Der Algorithmus unterstützt uns zwar bei der Verarbeitung der Masse an Texten, aber wir müssen das große Ganze verstehen. Auch oder gerade in der computergestützten Arbeit müssen ForscherInnen wachsam und kritisch bleiben“, so Eberl.
Für das Forschungsteam der Uni Wien beginnt nun eine „sehr produktive Phase“: Ergebnisse werden in wissenschaftlichen Journalen und Populärmedien veröffentlicht, auf Konferenzen zur Diskussion gestellt und an die anderen Workpackages des Gesamtprojekts rückgebunden. Darüber hinaus werden die zusammengetragenen Daten aus allen Arbeitspaketen gebündelt im Austrian Social Science Data Archive veröffentlicht, um sie so auch für andere ForscherInnen nutzbar zu machen.
Diskurse prägen Denken und Handeln
In einem nächsten Schritt sollen aus den empirischen Daten und Ergebnissen konkrete Handlungsempfehlungen und ein Online-Toolkit für PolitikerInnen, JournalistInnen und MeinungsmacherInnen entstehen, damit diese reflektierter mit der Thematik umgehen können. „Es ist wichtig, (uns alle) für medial produzierte Vorurteile zu sensibilisieren und uns negative Verzerrungen bestimmter Bevölkerungsgruppen wie MigrantInnen bewusst zu machen; darin liegt großes Veränderungspotenzial“, so Sebastian Galyga: „Diskurse haben einen Einfluss und wirken sich auf das Handeln und Denken von Menschen aus. JournalistInnen und politische EntscheidungsträgerInnen haben die Handlungsmacht, diese Diskurse mitzugestalten.“ (hm)
Eckdaten zum Projekt
- Titel: „REMINDER (Role of European Mobility and its Impacts in Narratives, Debates and EU Reforms)“
- Laufzeit: 01/2017–12/2019
- Beteiligte: Hajo Boomgaarden, Jakob-Moritz Eberl, Sebastian Galyga, Tobias Heidenreich, Fabienne Lind
- Institut: Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
- Finanzierung: Europäische Union – Horizon 2020
- PartnerInnen und Kooperationen: Universitat de Barcelona, Spanien | Migration Policy Centre (MPC), European University Institute (EUI) | University of Oxford, Vereinigtes Königreich | Budapest Business School, Ungarn | European Journalism Centre | Uppsala Universitet, Schweden | International Centre for Migration Policy Development | Maastricht University, Niederlande | Kantar Public | Johannes Gutenberg Universität Mainz, Deutschland | Universidad Rey Juan Carlos, Spanien | University of Gothenburg, Schweden | Migration Policy Institute Europe