Fehlgeleitete Erinnerungspolitik erkennen und korrigieren
Überblick
- Forschen für ein friedlicheres Miteinander: Ein Team aus Medienwissenschafter*innen forscht zur Vermittlung von Geschichtsbildern.
- In Experimenten wird untersucht, welche Art von Stimuli auf welche Weise unser Geschichtsverständnis und unsere politische Einstellung beeinflussen.
- Durch das Verständnis medialer Wirkungsfaktoren möchte das Projekt einen bewussteren Einsatz von Medien im Prozess der Geschichtsvermittlung forcieren.
History sells: „Narcos“, „Downton Abbey“, „Vikings“, „Hidden Figures“ – die Liste populärer Geschichtsserien und -spielfilme ist lang, die mediale Aufbereitung historischer Ereignisse so beliebt wie selten zuvor. Dabei tragen moderne Massenmedien nicht nur zur Information über aktuelle und vergangene Ereignisse bei, sie konstruieren diese auch und beeinflussen unser Geschichtsbild. Wie man einem potenziell verzerrten und verengten Geschichtsbild am besten begegnet, erforscht Jürgen Grimm vom Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in einem interdisziplinären Team.
„Wie können Erinnerungen an Konflikte und Kriege der jüngeren Geschichte so organisiert werden, damit diese nicht gleich einen neuen Krieg vorbereiten?“, fragen sich Grimm und sein Team von der Universität Wien. Gemeinsam haben sie sich ein hohes Ziel gesetzt: Ein Geschichtsverständnis möglichst frei von Vorurteilen und Fehlinterpretationen zu entwickeln, um so zu einem friedlichen und geregelten Miteinander und letztlich zu einer „konfliktmoderierenden Form der Erinnerung“ zu gelangen. Denn hierbei spielen die Art und Weise der Geschichtsvermittlung durch Medienkommunikate eine große Rolle.
Man muss die Perspektive der Opferrolle verlassen, um mit einer neuen Geschichtsperspektive die Probleme der Gegenwart zu bewältigen.
In einer Serie von Medienwirkungsexperimenten erforschen Grimm und sein Team zusammen mit Kooperationspartnern u.a. aus Israel, Russland, USA und der Türkei den Einfluss von Medien auf das Geschichtsbild von Menschen. Dabei werden den Proband*innen verschiedene Stimuli – z.B. Aussagen von Zeitzeug*innen, Schreckensbilder oder ein sachlicher Diskurs bezüglich eines bestimmten Ereignisses – gezeigt und mittels standardisierter Fragebögen mögliche Einstellungsänderungen gemessen, die vom jeweiligen Stimulus ausgelöst werden.
Für die Messung wurde ein Mehrdimensionenmodell entwickelt, das unterschiedliche politische Ansichten wie Kosmopolitismus, Patriotismus oder Nationalismus abbildet und das den Forscher*innen erlaubt, politische Einstellungen vor und nach Betrachten des Stimulus differenziert zu beurteilen.
„Ein oft beobachtbares Phänomen besteht darin, dass sämtliche gegenwärtige Handlungen einer geschichtlich benachteiligten Gruppe aufgrund dieser Vergangenheit legitimiert werden“, so Grimm. „Genau diese Einstellung sollte durch eine geeignete Geschichtsvermittlung nicht entstehen.“ Und daran arbeiten Grimm und seine Kolleg*innen schon seit 2009, im Jahr 2010 erschien die erste Studie in Österreich. Um international zu vergleichen, wird die Untersuchung seit 2011 in acht Ländern durchgeführt – in Österreich, Israel, Vietnam, Deutschland, Russland, den USA, Großbritannien und der Ukraine, hauptsächlich mit jungen Proband*innen an Schulen und Universitäten.
Forschen für ein friedlicheres Miteinander.
Grimm erhofft sich, durch seine Forschung eine geeignete Erzählform zu entwickeln, mit der sich „ein differenziertes Geschichtsbild vermitteln lässt, das Vorurteile abbaut und den Weg zu einem friedlichen Miteinander ebnet“. Dabei steht vor allem die Geschichtsaufbereitung für Jugendliche im Vordergrund, um so jungen Menschen, die an der Geschichte nicht teilgenommen haben, einen konfliktarmen Zugang zur Geschichte zu schaffen.
Pendeln zwischen Stimulus und eigener Weltsicht.
„Die Stufen der rezeptiven Beteiligung sind besonders wichtig“, so der Medienwissenschafter. Hiermit sind die unterschiedlichen Empfängnisgrade für die jeweiligen Stimuli gemeint: Auf der ersten Stufe des Prozesses steht die Frage, ob ein Einfühlen in die gegebene Situation möglich ist. Erreicht ein Stimulus die zweite Stufe, kommt es zum sogenannten „Involvement“ – die eigene Erfahrung wird von den Rezipierenden zum Stimulus in Bezug gesetzt und das Ereignis wird in einem persönlichen, oft auch empathischen Kontext gesetzt. Dieses Involvement ist aus Grimms Sicht erwünscht und für ein reflektiertes Geschichtsbild maßgeblich. Involvement trägt zur Sensibilisierung und einer Identifizierung mit einem vereinenden Geschichtsbild bei und beugt so einer Wiederholung negativer Vorfälle aus der Vergangenheit bei.
„Aus dem Spagat zwischen Stimulus und eigener Weltsicht ergibt sich ein Nachdenken, das zu neuen Schlussfolgerungen führt“, so der Wissenschafter: „Mit dieser Methode soll vor allem der Geschichtsunterricht optimiert werden.“
Subversiver Humanismus als Methode
Durch seine Forschung erhofft sich Grimm, einen Erkenntnisprozess bei den Teilnehmer*innen auszulösen, der nicht nur zur Aufklärung verzerrter Geschichtsbilder beiträgt, sondern auch zur Kontextualisierung anderer historischer Ereignisse führt und zu einer kritischen Denkhaltung anregt. Diesen angestrebten Prozess bezeichnet Grimm als „subversiven Humanismus, der die Geschichte als Erfahrungsfeld sieht und zur Humanisierung der Gesellschaft beitragen soll“.
Ein immer wichtiger werdendes Thema ist laut Grimm auch die Manipulation von geschichtlichen Entwicklungen, gerade mithilfe moderner Medien. Aus diesem Grund ist es für einen zeitgemäßen Geschichtsunterricht unabdingbar, sich kritisch mit Quellen auseinanderzusetzen.
Die Erzählungen von Zeitzeugen*innen haben eine hohe Glaubwürdigkeit.
Auswertungen der Studie lassen sowohl auf generalisierbare Effekte schließen als auch auf individuelle. Als allgemeine und für alle beobachteten Länder gültige Resultate, lassen sich die wichtige Vermittlerrolle von Zeitzeug*innen sowie der starke positive Einfluss der Vermittlung von detailliertem Geschichtswissen, begleitet von kritischer Diskussion, nennen. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust beispielsweise schwächte bei Proband*innen in allen Ländern eine nationalistische Einstellung, zugunsten einer kosmopolitischen Sicht.
Taten der eigenen Nation werden oft legitimiert ...
Feststellen lässt sich aber auch, dass die Behandlung von Themen, welche die eigene Nation in ein schlechtes Licht rücken, eine abwehrende Haltung hervorrufen kann. Die Forscher*innen bezeichnen das als Misanthropieeffekt: In diesem Fall bleibt bei gleichen Stimuli eine Aufklärung und ein Wandel hin zu einer kritischen Position aus. Durch die eigene Identifikation mit einer geschichtlich vorbelasteten Gruppe, beispielsweise einer „Täternation“, entsteht bei den Rezipient*innen häufig ein Gefühl der Mitschuld, aus dem wiederrum ein Abwehrmechanismus resultiert. Denn den geliebten Großvater als Teil eines menschenverachtenden Regimes einzuordnen, bringt viele Rezipient*innen in die Bedrängnis, zwei gegensätzliche Realitäten zu vereinen – ein Unterfangen, das häufig misslingt. Stattdessen lässt sich häufig eine Legitimierung der Taten eigener Landsleute beobachten, mit der Begründung, dass ohnehin alle Menschen schlecht seien. Grimm fürchtet hier um das Ziel der Humanität und sieht die „Schuld bei einer Blockade der moralischen Schlussfolgerung“ zugunsten des Selbstschutzes.
Mit dem Projekt eröffnet das Forschungsteam einen Diskurs zu einer differenzierten Geschichtsvermittlung mit dem Ziel, Vorurteile und historisches Halbwissen zu verringern, um so zu einem friedlicheren und verständnisvolleren Miteinander zu gelangen. (il)
Eckdaten zum Projekt
- Titel: „Geschichtsvermittlung durch Medien im transnationalen Raum“, Teil des interdisziplinären Projektverbunds „Geschichtsvermittlung in der Mediengesellschaft“
- Zeitraum: Seit 2011
- Projektteam: Jürgen Grimm, Andreas Enzminger, Bettina Paur, Petra Schwarzweller, Eduard Beitinger, Wolfgang Paul
- Institut: Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
- Kooperationen: Klaus Davidowicz (Universität Wien), Ruth Wodak (Universität Lancaster), George Deak (Universität Massachusetts), Zsusanna Agora (Universität Pecs, Ungarn), Moshe Zuckermann (Universität Tel Aviv), Esra Arcan (Universität Istanbul), Volodymyr Rizun (Universität Kiew), Joachim von Gottberg (Universität Halle-Wittenberg), Truong Ngoc Nam (Academy of Journalism and Communication, Hanoi)
- Finanzierung: Stadt Wien, Verein zur Förderung der Medienforschung (VFM)