Barrierefrei durch die Stadt
Überblick
- Gerit Götzenbrucker stellt im Projekt „Angstfrei mobil“ die Frage, welche Barrieren es für Personen mit Angststörungen bei der Nutzung des öffentlichen Verkehrs gibt.
- Dabei wird vorrangig ins Licht gerückt, dass es nicht nur physische, sondern auch psychische Barrieren gibt und mehr Bewusstsein diesbezüglich geschaffen werden muss.
- Betroffene werden dabei als Expert*innen für ihre Lebensrealitäten wahrgenommen und leiten mitunter auch Workshops, die zur Thematik sensibilisieren sollen.
Wird von Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehr gesprochen, so sind in der Regel physische Barrieren im Fokus. Psychische Barrieren, wie etwa Probleme bei der Orientierung aufgrund von Stress, Angst vor Tunneln, fehlende Rückzugsräume wie Toiletten und die Angst, das Smartphone als „Rettungstool“ zu verlieren oder keinen Empfang zu haben, werden dabei zumeist nicht bedacht. Ein Team von Kommunikationswissenschafter*innen wollte das ändern.
Eingebettet in einem interdisziplinären Projektteam mit mehreren Kooperationspartner*innen untersuchten Gerit Götzenbrucker (akademische Leitung), Michaela Griesbeck und Kai Daniel Preibisch im Rahmen von „Angstfrei Mobil“ über zwei Jahre hinweg, welchen Barrieren psychisch beeinträchtigte Personen im öffentlichen Verkehr in Wien begegnen. Die Wiener Linien als Praxispartner und Projektleiter agierten dabei mit offenen Ohren und weitere Projektmitglieder führten, basierend auf Ergebnissen der Forschung, Workshops im Unternehmen durch. Diese hatten die Sensibilisierung im Hinblick auf psychische Barrieren zum Ziel.
Neben der engen Kooperation mit den Wiener Linien wurde auch laufend die Expertise von Brigitte Heller, der Vorsitzenden des Betroffenenvereins Lichterkette, und der Verkehrspsychologin Bettina Schützhofer vom verkehrspsychologischen Institut „Sicher unterwegs“ eingeholt. Hierbei ging es beispielsweise darum, Leitfäden für Interviews und Mobilitätsspaziergänge möglichst sensibel zu formulieren und die Erhebungssituation insgesamt sicher und angenehm für die Betroffenen zu gestalten. Die Menschen, mit denen das Team forschte, wurden größtenteils über verschiedene Betroffenenvereine akquiriert, einige meldeten sich jedoch auch über einen Aufruf auf der Homepage des Projektes. „Wir wollten mit einer möglichst großen Bandbreite an Betroffenen sprechen, also mit Personen unterschiedlichen Alters, aus verschiedenen Stadtteilen und mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen“, berichtet Gerit Götzenbrucker.
Kai Daniel Preibisch erläutert, dass der Fokus des Projektes dabei auf Angststörungen lag. „Hierbei erweist sich die Unterscheidung zwischen einer spezifischen Angst, die direkt mit dem Umfeld zu tun hat, und einer generalisierten Angst, die während einer Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln auftreten kann, aber nicht unbedingt direkt damit in Zusammenhang steht, als hilfreich“, erzählt er weiter. Wer dabei als „psychisch beeinträchtigt“ gilt, ist eine Frage der Selbstdefinition: „Wir haben mit Personen gesprochen, die von sich selbst gesagt haben, dass sie eine psychische Angsterkrankung haben, aufgrund welcher sie Probleme haben, den öffentlichen Verkehr zu nutzen“, so Preibisch. Dabei betont Gerit Götzenbrucker, dass von ihrer Seite aus eine sozialwissenschaftliche Diagnose gestellt wird, und keinesfalls eine psychologische. „Dazu wäre der Rahmen unserer Forschung auch völlig ungeeignet.“
Sensibles Vorgehen in der Forschung mit vulnerablen Gruppen
Bei der Forschung mit vulnerablen Gruppen, wie es in diesem Projekt (während der Corona Pandemie) der Fall war, ist es von besonderer Wichtigkeit, einfühlsam und sensibel gegenüber den Betroffenen vorzugehen. „Dabei stand beispielsweise im Vordergrund, dass der Leitfaden für die Interviews möglichst wenige herausfordernde Elemente enthalten soll, um eine Situation, die an und für sich schon schwierig für die Betroffenen sein kann, nicht noch anstrengender zu gestalten“, so Kai Daniel Preibisch. „Das wurde auch bei der Interviewführung beachtet, indem wir wenig weiter nachhakten und laufend die Möglichkeit zu Pausen im Gespräch anboten.“ Der Schutz der Persönlichkeitsrechte wie Anonymität, Einverständnis und der allzeit mögliche Rücktritt sowie strengste Datenschutzauflagen waren Grundbedingungen für die Bewilligung der Forschung durch die Ethikkommission der Universität Wien.
Darüber hinaus bekam das Forschungsteam eine umfassende Schulung von der Verkehrspsychologin Bettina Schützhofer. Dabei erhielten die Wissenschafter*innen sowohl eine allgemeine Einführung zu Angsterkrankungen als auch spezifische Tools, um betroffene Personen in der Interviewsituation unterstützen zu können, sollten diese im Laufe des Gespräches Angst oder Panik entwickeln. „Wir haben beispielsweise bestimmte Atemtechniken mit der Verkehrspsychologin geübt, die in solchen Situationen hilfreich sein können“, erklärt Michaela Griesbeck.
Fokus auf Positivem
Zur weiteren Erhebung fanden sogenannte positive Mobilitätsspaziergänge statt, wobei die Forschenden einige der Personen, die sie zuvor interviewt hatten, auf einem Routineweg durch die Stadt begleiteten. „Dabei sollten die Personen zeigen, was ihnen an der Mobilitätskette positiv auffällt und was sie positiv bestärkt. Im Zuge dessen kommt ja sowieso auch immer wieder das auf, was sie stört und was nicht so gut ist“, so Gerit Götzenbrucker.
Hierbei wurde unter anderem die Wichtigkeit von Vorausplanung und Vorabinformation deutlich. „Dies kann auch ganz kurzfristig eine Rolle spielen, beispielsweise ist die Minutenanzeige zu den nächsten Verkehrsmitteln oft relevant“, schildert Griesbeck. „Für Personen, die Angst vor überfüllten Verkehrsmitteln haben, ist eine derartige Anzeige sehr wichtig.“ So kann beispielsweise bereits am überfüllten Bahnsteig die Entscheidung getroffen werden, auf die übernächste U-Bahn zu warten, statt in die überfüllte einzusteigen, wenn erkennbar ist, dass diese nur kurze Zeit später kommt.
Auch die Info-Screens in den U-Bahn-Stationen und Anzeigen in den Fahrzeugen spielen für viele Personen, die mit Angststörungen leben, eine wichtige Rolle: „Zum einen dienen die Infoscreens zur Ablenkung von belastenden Situationen, andererseits sind auch die Anzeigen in den Fahrzeugen sehr wichtig für Orientierungszwecke, um zu wissen wo man sich befindet und wo man aussteigen muss“, sagt Michaela Griesbeck.
Hier sieht das Forschungsteam noch deutlichen Raum zur Verbesserung. So erklärt Griesbeck weiter: „Orientierung ist häufig ein Problem, da die Betroffenen, wenn sie unter großem Stress stehen, oft Schwierigkeiten haben, die Schilder genau zu lesen oder zu sehen, wo der Ausgang ist. Da gibt es ein eindeutiges Optimierungspotential, um schneller aus den Stationen oder den Verkehrsmitteln herauszufinden.“
Verbesserung von technischen und menschlichen Schnittstellen
„Es sind sowohl technische als auch menschliche Schnittstellen verbesserungsfähig“, ergänzt Gerit Götzenbrucker. „So könnten beispielsweise Begleit- oder Abholservices angeboten werden. Hier geht es auch darum, dass es Menschen gibt, die angesprochen werden können, wenn es einem nicht gut geht.“ Götzenbrucker erzählt weiter, dass diesbezüglich von Seiten des Betroffenenvereins Lichterkette auch eine Art ‚Erste Hilfe für die Seele‘ vorgeschlagen wird. Dabei soll durch ein Schulungsprogramm Bewusstsein geschaffen werden, wie unterstützt werden kann, und dass beispielsweise bei einer Panikattacke nicht sofort die Polizei oder der Krankenwagen gerufen werden muss.
Darüber hinaus wird von Betroffenen auch häufig zwischen unterirdischem und überirdischem Transport unterschieden. Der unterirdische Transport wird dabei zumeist als bedrohlicher wahrgenommen, da hier die Orientierung schwerer ist, und es oftmals nicht so leicht ist, schnell aus den Stationen zu kommen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass das Mobilfunknetz nicht immer funktioniert, wodurch die Nutzung von Mobilitäts-Apps oder unterstützende Begleitung am Telefon durch eine Vertrauensperson erschwert wird. „Im Routenplaner können U-Bahnen zwar ausgeschlossen werden, oft ist aber nicht das Fahren mit der U-Bahn selbst, sondern nur das Fahren in den Tunneln ein Problem. Daher wäre es sinnvoll, wenn Routen nach dem Kriterium ‚Tunnel‘ gefiltert werden könnten“, gibt Michaela Griesbeck zu bedenken.
Bewusstseinsschaffung über psychische Barrieren
Erkenntnisse, die die Forschenden durch ihre Zusammenarbeit mit Betroffenen erlangten, meldeten sie dann auch an die Wiener Linien zurück. „Während es nicht von heute auf morgen möglich ist, den Routenplaner zu ändern, da das unter anderem mit hohen IT-Kosten verbunden ist, so hören unsere Projektpartner uns trotzdem gut zu, und setzen gewisse Dinge auch ad hoc um“, erläutert Götzenbrucker. So wurden seit dem Projekt öfter positive Durchsagen gemacht, auch wurde der Fokus vermehrt auf die Belebung großer Stationen, beispielsweise mit Musik, gelenkt. „Auch bei den Infoscreens gibt es den Wunsch, keine negativen Nachrichten, z.B. über Attentate zu sehen“, so Griesbeck. „Solche Erkenntnisse tragen wir dann auch ins Unternehmen zurück“.
Von Seiten der Wiener Linien erklärt Lisa Stoiber-Frank: „Die Ergebnisse aus dem Projekt werden in die Planung und Adaptierung unserer Angebote, wie die Wien Mobil App, die Website oder die Gestaltung von Printprodukten, mit einbezogen“. Auf Grundlage des Forschungsprojektes wurden schließlich auch zahlreiche Workshops auf den unterschiedlichen Unternehmensebenen der Wiener Linien durchgeführt. Dazu schildert Gerit Götzenbrucker: „Basierend auf unseren Ergebnissen haben unsere Projektpartner tbw research und das verkehrspsychologische Institut „Sicher unterwegs“ ein Workshopkonzept entwickelt. Damit soll gewährleistet werden, dass die Mitarbeiter*innen der Wiener Linien auf solche Problemlagen zunehmend sensibel reagieren und diese auch als solche erkennen können.“
Michaela Griesbeck ergänzt: „Die Schulungen sind dabei so aufgesetzt worden, dass die Teilnehmenden von einer betroffenen Person selbst lernen, nicht etwa von einer Psychologin. Dass die Betroffenen ihr Wissen und ihre persönlichen Geschichten und Probleme weitergeben, bewirkt eine bessere Nachvollziehbarkeit, als ein rein theoretischer Vortrag. Darüber hinaus werden die Betroffenen, die die Workshops leiten, ermächtigt, als Expert*innen für ihre Lebenswelten zu agieren, statt nur ‚Beforschte‘ zu sein, über die berichtet wird.“
Beiträge zu sozialwissenschaftlicher Forschung
„Durch den sensiblen Umgang mit vulnerablen Gruppen leisten wir auch einen weiterführenden Beitrag zur qualitativen Sozialforschung – über die Corona-Pandemie hinausgehend“, erklärt Gerit Götzenbrucker. So veröffentlichte das Team im September 2022 einen Artikel im Forum Qualitative Sozialforschung, wobei sie ihren Methodeneinsatz bei der Forschung mit vulnerablen Gruppen darstellen und reflektieren. Dies geschieht auch im Hinblick auf die Verwendung verschiedener technologischer Hilfsmittel, die im Forschungsprozess zum Einsatz kommen, wie beispielsweise Aufnahmegeräte oder Videotelefonie. Durch diese Grundlagenarbeit, die von der Ethik-Kommission der Universität Wien bewilligt und abgesichert wurde, profitiert die Wissenschaftscommunity und insbesondere jene Forschenden, die selbst mit vulnerablen Gruppen forschen möchten, indem auf derartigen Erkenntnissen aufgebaut werden kann.
„Darüber hinaus sind wir, auch in einem internationalen Kontext betrachtet, bei den Ersten, die überhaupt zum Thema psychische Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehr forschen“, ergänzt Griesbeck, „Barrierefreiheit wird gängigerweise nur im Hinblick auf physische Beeinträchtigungen definiert, ab und an werden auch Menschen mit Demenz oder mit Schlaganfällen inkludiert. Psychische Barrieren durch Ängste im öffentlichen Verkehr werden wissenschaftlich bisher kaum thematisiert, obwohl es gesellschaftlich ein großes Thema ist.“ Das Forschungsteam knüpft hier auch an die Studie „Phobility Aktiv“ an, die vor einigen Jahren an der TU Wien stattfand und sich mit Menschen auseinandersetzte, die ihre Angststörungen weitestgehend überwunden hatten. Diese setzte sich laut Götzenbrucker und Preibisch vor allem mit der Nutzung des motorisierten Individualverkehrs und des Wiedererlangens von Kompetenzen zur Nutzung des öffentlichen Verkehrs auseinander.
Gerit Götzenbrucker erzählt abschließend, dass daher auch die Betroffenen, mit denen gearbeitet wurde, sehr interessiert an den Forschungsergebnissen sind. „Sie sind auch sehr dankbar, dass das Thema aufgegriffen wurde. Die Teilnahme am Projekt hatte auch den Effekt, dass viele gemerkt haben, dass ihre Erlebnisse im öffentlichen Verkehr durchaus relevant sind und diese Themen auch in ihrem Umfeld angesprochen werden können.“ (ht)
Eckdaten zum Projekt
- Titel: Angstfrei Mobil
- Laufzeit: 10/2020 – 10/2022
- Projektteam: Gerit Götzenbrucker (akademische Leitung), Michaela Griesbeck, Kai Daniel Preibisch (Universität Wien)
- Beteiligte und Partner*innen: Wiener Linien GmbH & Co KG (Projektleitung, Lisa Stoiber-Frank), Wiener Lokalbahnen (Harald Wakolbinger), Wiener Stadtwerke, WIPARK (Manuel Hahnl), tbw research (Claudia Sempoch), Verkehrspsychologische Untersuchungen GmbH – „Sicher unterwegs“ (Bettina Schützhofer), Verein Lichterkette (Brigitte Heller)
- Institut: Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft
- Finanzierung: Wiener Stadtwerke Innovationsfonds
Publikationen und Medienartikel
- Götzenbrucker, G., Griesbeck, M., & Preibisch, K. (2022). Qualitative Interview Research With Vulnerable Groups: Methodological Reflections on the Use of Face-to-Face, Telephone, and Video Interviews in a Research Project Examining Fear and Mobility. Forum Qualitative Sozialforschung Forum: Qualitative Social Research, 23(3). https://doi.org/10.17169/fqs-23.3.3934.
- Auch für Menschen mit psychischer Erkrankung gibt es Barrieren im öffentlichen Verkehr, bizeps, 17.01.2022.