Getreidepflazen in einem Gewächshaus mit Post-Its versehen

© Valuing, Being, Knowing

Gesellschaftliche Relevanz in der Wissenschaft stärken

Überblick

  • Im Forschungsprojekt „Valuing, Being, Knowing“ wurde untersucht, wie Fragen von gesellschaftlicher Relevanz in den Lebenswissenschaften mehr zum Tragen kommen könnten.
  • Das aktuelle Wissenschaftssystem schafft jedoch kaum optimale Bedingungen, um an gesellschaftlicher Relevanz orientierte Forschung zu fördern.
  • Wissenschaftsforscher*innen der Uni Wien haben bei ihren Untersuchungen drei zentrale Hebel identifiziert, um Fragen nach gesellschaftlicher Relevanz nachhaltiger in der Forschung zu verankern.

Mit ihrem Projekt wollten die Wissenschaftsforscher*innen besser verstehen, wie Umorientierungen zu mehr gesellschaftlicher Relevanz innerhalb der Boden- und Nutzpflanzenforschung möglich ist. Inwiefern ein stärkerer Fokus auf gesellschaftliche Relevanz in der Forschung gelingen kann, hängt auch mit strukturellen Bedingungen des aktuellen Wissenschaftssystems zusammen: Wie wird Forschung gefördert? Was wird wertgeschätzt? Haben Wissenschafter*innen überhaupt Raum und Zeit zu reflektieren, was ihre Forschung in größeren Kontexten bewirken kann und soll?

Ruth Falkenberg, Maximilian Fochler und Lisa Sigl vom Institut für Wissenschafts- und Technikforschung bildeten das dreiköpfige Projektteam, das derartige Fragen beleuchten wollte. Die Ergebnisse des Projekts weisen auf drei zentrale Hebel zur Stärkung von gesellschaftlicher Relevanz in der Wissenschaft hin: die Vermittlung zentraler Kompetenzen an zukünftige Forscher*innen, laufende Debatten und Aushandlungsprozesse in wissenschaftlichen Communities über die gesellschaftlichen Relevanz ihrer Forschung, und nicht zuletzt die Universitäten, die zentrale Bedingungen für verantwortliches Handeln schaffen können. Was überhaupt als gesellschaftlich relevant gilt, ist eine Frage der Definition und des Kontexts: „Es gibt verschiedenste Arten von gesellschaftlicher Relevanz, die sich zum Teil auch in verschiedenen Disziplinen stark unterscheiden“, erklärt Lisa Sigl. Maximilian Fochler ergänzt, dass es ihnen in dem Projekt besonders wichtig war, mit Wissenschafter*innen zusammenzuarbeiten, welche zwar Grundlagenforschung betreiben, aber auch versuchen, mit ihrer Forschung zu gesellschaftlicher Relevanz beizutragen. „Hier wollten wir uns mit den Lebenswissenschaften auseinandersetzen, welche sich mit Umweltproblemen beschäftigen. Schlussendlich haben wir uns dann vor allem die Boden- und Nutzpflanzenforschung angesehen. Zum einen, weil dort durch die Klimakrise der Problemdruck immer höher wird, und zum anderen, weil wir den Eindruck hatten, dass hier bereits interessante Zwischenwege zwischen exzellenter Grundlagenforschung und angewandter Forschung existieren“, so der Forscher.

Es herrscht bislang häufig ein lineares Modell der Relevanz von Grundlagenforschung vor. Demnach wird erwartet, dass die Ergebnisse der Forschung irgendwann von selbst bei jenen Personen ankommen, für die sie wichtig sein könnten. Das reicht laut Lisa Sigl nicht aus: „Vielmehr sind hier bewusstere Prozesse gefragt, wo die Forschenden sich im Klaren darüber sind, zu welchem konkreten Problem das von ihnen produzierte Wissen beitragen kann, und auch wie dieses Wissen, über klassische wissenschaftliche Publikationen hinaus, an die Gesellschaft kommuniziert werden kann“.

 Gesellschaftliche Bedingungen ändern Forschung

Um herauszufinden, wie Wissenschafter*innen gesellschaftliche Relevanz in ihre Entscheidungsprozesse miteinbeziehen, begleitete das Projekt drei verschiedene Forschungsgruppen. Dabei wurden Interviews mit den Mitgliedern der Gruppen geführt und Meetings besucht. Dann kam aber die Pandemie dazwischen. „Einerseits wurde es dadurch für uns schwer bis unmöglich, nachzuvollziehen, wie die Leute Entscheidungen treffen, andererseits wollten wir in einer Situation, die für unsere Kooperationspartner*innen in der Wissenschaft ohnehin schon sehr herausfordernd war, nicht noch eine zusätzliche Belastung sein“, erzählt Maximilian Fochler.

Das brachte das Projektteam dazu, ihren Blick zu erweitern. Falkenberg, Fochler und Sigl beschlossen, zu erforschen, wie sich das Feld der Bodenforschung längerfristig verändert hat. Dafür führten sie im internationalen Feld Interviews über Videotelefonie, und analysierten Fachliteratur, um zu verstehen wie sich Debatten und zentrale Argumente über einen längeren Zeitraum hinweg veränderten. Lisa Sigl sagt dazu: „Diese Entwicklungen der Bodenwissenschaften über mehrere Jahrzehnte nachzuvollziehen war besonders spannend, da es in den 1970er und 1980er Jahren eine regelrechte Legitimationskrise des Faches gab. Mit dieser Krise kamen intensive Debatten zur Relevanz des Faches auf, und die wissenschaftliche Community der Bodenforschung musste sich wirklich überlegen, was sie machet und warum“.

 Relevantere Wissenschaft

Für die Wissenschaftsforscher*innen war es sehr interessant zu beobachten, wie und mit welchen Argumenten diese Debatten geführt wurden. „Es war auch spannend zu beobachten, wie sich eine Disziplin umorientieren kann. Dabei haben wir auch in den Blick genommen, wie sich Forschungsinteressen über einen längeren Zeitraum hinweg ändern und inwiefern Überlegungen von gesellschaftlicher Relevanz dabei eine Rolle spielen“, erklärt die Forscherin Sigl.

Sie erläutert weiter: „In der derzeitigen Wissenschaftspolitik ist der Wunsch abzulesen, dass Wissenschaft sich umorientiert und relevanter wird. Dadurch, dass wir erforschen, unter welchen Bedingungen Entscheidungen in Forschungsgruppen getroffen werden und wie sich über einen längeren Zeitraum Disziplinen verändern, trägt unser Projekt dazu bei, zu verstehen, was verschiedene Hebel für Umorientierungen sein können, und wie ein neues Umfeld und neue Bedingungen für relevante Forschung geschaffen werden können.“

 Ausbildung

Als erste der drei zentralen Ebenen, die zu einer stärkeren Orientierung des Wissenschaftssystems an gesellschaftlicher Relevanz beitragen können, nennen Maximilian Fochler und Lisa Sigl die Ausbildung der nächsten Generation der Wissenschafter*innen. „Hier könnten beispielsweise Denkräume zur Thematik stärker geöffnet werden“, sagt Fochler. Das könnte etwa durch Lehrveranstaltungen, in denen soziale Aspekte und soziale Relevanz von Forschung zum Thema gemacht wird, geschehen. Lisa Sigl fügt hinzu: „Wir versuchen auch, zu überlegen, welche Kompetenzen wie in der Ausbildung vermittelt werden sollen. Welche Arten von Kursen braucht es, dass ich als angehende Forscher*in beispielsweise lerne, was das von mir produzierte Wissen zu einem bestimmten gesellschaftlichen Thema beitragen kann und was auch nicht.“ Hier gilt es, sich innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen zu überlegen, welche Kompetenzen im Hinblick auf die Förderung von gesellschaftlich relevanter Forschung wichtig sind und wie diese in Lehrveranstaltungen trainiert werden können.

Dass eine stärkere Ausrichtung an Relevanz aber auch über Veränderungen in der Ausbildung hinaus reichen muss, betont Maximilian Fochler: „Wir können nicht alle anderen Voraussetzungen gleich lassen und erwarten, dass die nächste Generation der Wissenschafter*innen das dann schon lösen wird. Es gibt auch eine Verantwortung der wissenschaftlichen Communities und der Universitäten, Änderungen in der Art und Weise, wie Wissenschaft betrieben wird und ausgerichtet ist, voranzutreiben“.

 Wissenschaftliche Communities als Akteur*innen der Veränderung

Das Projektteam sieht also die wissenschaftlichen Communities selbst in der Verantwortung, laufend darüber nachzudenken, welche inhaltliche Orientierung in ihrem Feld zu gesellschaftlicher Relevanz beitragen könnte. „Auch ein wissenschaftliches Feld kann reflektieren, was es in den letzten Jahren an Forschung gemacht hat, und ob es angesichts aktueller Herausforderungen notwendig ist, vielleicht neue Richtungen einzuschlagen. Hier können beispielsweise Überblicksartikel, die sagen, welches Wissen aktuell für bestimmte Problemstellungen gebraucht wird, zu sehr mächtigen Anschlusspunkten werden“, so Maximilian Fochler. Lisa Sigl erklärt, dass ein gutes Beispiel für solche Überblicksartikel die Berichte des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) sind, die versuchen, den Stand der Forschung in Bezug auf die Klimakrise aufzubereiten. „In der Bodenforschung gibt es ähnliche Bemühungen in Bezug auf die Erhaltung der Bodenbiodiversität.“

Das Team der Uni Wien analysierte, wie Wissenschaftsfelder solche Richtungsentscheidungen treffen können und stellte fest, dass es ein breites Repetoire an konkreten Praxen gibt, die zu solchen Reorientierungen beitragen können. Dies können etwa Diskussionen auf Konferenzen oder auch Berichte, die den Forschungsstand zusammenfassen und mögliche zukünftige Ausrichtungen für die Forschung ausloten, sein.  Vor allem letztere sind nach Ansicht der Forscher*innen effektive Wege, Richtungsentscheidungen von Disziplinen vorzubereiten. Eine Frage, die Lisa Sigl hier aufwirft, ist, welche Personen in den jeweiligen Communities überhaupt die Macht – und damit auch die Verantwortung – haben, derartig wegweisende Diskussionen anzustoßen.

 Universitäten

Als dritten Hebel, um gesellschaftliche Relevanz zu stärken, identifiziert das Projekt die strukturellen Bedingungen für Forschung an Universitäten. In der Wissenschafts- und Technikforschung gilt es etwa inzwischen als gesichert, dass die derzeitig relativ abstrakten Evaluierungsmethoden nicht dazu beitragen, gesellschaftliche Relevanz zu stärken. Bereits bei Einstellungsprozessen könnte die Qualität von Forschung nicht nur an der Anzahl der Publikationen, sondern auch an der gesellschaftlichen Relevanz von Forschung gemessen werden. „Wenn beispielsweise nur Augenmerk auf die Menge oder Reichweite von Publikationen gelegt wird, kann das nicht direkt etwas über die Qualität des produzierten Wissens aussagen.“, erklärt Lisa Sigl. Ein weiterer Faktor ist Zeit: „Wenn die Leute ständig überarbeitet sind und gar keine Zeit haben, darüber nachzudenken, wie ihre Forschung an aktuelle gesellschaftliche Problematiken anknüpfen könnte, werden sie sich auch nicht dementsprechend umorientieren. Hier geht es einfach auch darum, Möglichkeitsbedingungen für Veränderung zu schaffen“, erläutert Maximilian Fochler.

Nach Ansicht des Projektteams wäre es also angebracht, vermehrt Evaluationsmechanismen zu implementieren, die weniger auf die Quantität und mehr auf die Qualität von erbrachter Forschung, auch in Bezug auf ihre gesellschaftliche Relevanz, achten. Darüber hinaus sollten aber Entlastungen für die Wissenschafter*innen selbst geschaffen werden, damit diese überhaupt Kapazitäten haben, über die Positionierung ihrer eigenen Forschung zu reflektieren.

 Aufbereitung von Wissen auf den drei Ebenen

Die Wissenschaftsforscher*innen der Uni Wien haben nicht nur diese drei Handlungsebenen identifiziert, sie spielen ihr Wissen, das sie im Zuge des Projektes erarbeitet haben, auch in verschiedenen Ebenen zurück: „Gemeinsam mit unseren Kooperationspartner*innen haben wir ein Paper geschrieben, das geht also zurück in die wissenschaftlichen Communities. Auf Universitätsebene haben wir Vorträge und Workshops zur Evaluierung von Forschung und neuen Ansätzen dazu gehalten.“, berichtet Lisa Sigl. „Gerade schreiben wir ein weiteres Paper, wo wir beleuchten, welche Kompetenzen es zu trainieren gilt. Hier recherchieren wir gerade für ein neues Lehrkonzept für inter- und transdisziplinäre Kompetenzen. Dabei verstehen wir Kompetenzen nicht nur als inhaltliche Fähigkeiten, sondern eben auch im Hinblick auf reflexive Evaluierungen von Relevanz“, erklärt die Wissenschafterin weiter. Denn wenn Wissenschafter*innen durch solche reflexiven Kompetenzen anders über die gesellschaftliche Relevanz ihrer Forschung nachdenken können, führt das zu anderer Wissensproduktion. Sind sich Forschende darüber im Klaren, welche Art von Wissen zu welchem Problem in welchem Maße beitragen kann, kann Wissenschaft viel konkreter nach spezifischen gesellschaftlichen Problemstellungen ausgerichtet werden, als wenn solche Dinge nicht hinterfragt und mitgedacht werden.
Die Wissenschafts- und Technikforscher*innen der Universität Wien identifizieren die verschiedenen Hebel und zeigen unterschiedliche Möglichkeiten auf, diese nutzen. Dadurch möchten sie einen Beitrag leisten, um Bedingungen dafür zu schaffen, dass sich Wissenschaft stärker an gesellschaftlicher Relevanz orientieren kann. (ht)

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: Valuing, Being, Knowing. Understanding the entanglements of valuation practices and subjectification processes in life science research
  • Laufzeit: 01/2019 – 02/2024
  • Projektteam: Maximilian Fochler, Lisa Sigl, Ruth Falkenberg
  • Beteiligte und Partner*innen: Institut für Pflanzenzüchtung und Institut für Biotechnologie in der Pflanzenproduktion (Hermann Bürstmayr) BOKU Tulln, Institut für Bodenforschung (Eva Oburger) BOKU Tulln, Department für Mikrobiologie und Ökosystemforschung (Dagmar Woebken) Uni Wien.
  • Institut: Institut für Wissens- und Technikforschung, Forschungsplattform Responsible Research and Innovation in Academic Practice
  • Finanzierung: FWF Austrian Science Fund