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Grauzonen guter wissenschaftlicher Praxis

Wie können wir über Verantwortung und Werte in der Wissenschaft reden?

Überblick

  • Das Forschungsprojekt „Borderlands of Good Scientific Practice“ untersucht Fragen rund um die Grauzonen und Grenzüberschreitungen von guter wissenschaftlicher Praxis.
  • Die dabei verwendete kartenbasierte Diskussionsmethode „RESPONSE_ABILITY“ ermöglicht vor allem jungen Forschenden, über ihre Werte in der Wissenschaft zu reflektieren und Fähigkeiten zu entwickeln, um kontextspezifisch auf Fragen der Forschungsintegrität eingehen zu können.
  • Dabei nehmen die Projektleiterin Ulrike Felt und ihre Kollegin Florentine Frantz weniger die Rolle der Lehrenden ein, sondern wollen einen Raum schaffen, in dem ein offener Austausch zu diesem Thema stattfinden kann.

Die Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt beschäftigt sich seit vielen Jahren damit, was es bedeutet, wissenschaftlich zu arbeiten. Dabei möchte sie den Fokus insbesondere darauf legen, welches Leben in der Wissenschaft geführt werden kann. Untersucht wird etwa, wie Alltage strukturiert werden, welche Erwartungshaltungen es gibt und welche Werte in der Forschung angetroffen und eingebracht werden. Im öffentlichen Diskurs wurde dabei die Frage nach guter wissenschaftlicher Praxis immer präsenter, weshalb Ulrike Felt gemeinsam mit Florentine Frantz im Projekt „Borderlands of Good Scientific Practice“ beforscht, was gute wissenschaftliche Praxis für wen bedeutet. Dabei untersuchten sie sowohl, wie wissenschaftliche Fehltritte in Zeitschriften wie Science und Nature verhandelt werden, als auch wie Forschende und Universitäten mit Fehltritten umgehen und was gute wissenschaftliche Praxis für diese verschiedenen Akteur*innen, über allgemein gehaltene Auffassungen hinaus, bedeutet.

Felt und Frantz nutzen hierbei den Begriff Borderlands, um aufzuzeigen, dass man sich bei Fragen der guten wissenschaftlichen Praxis oftmals nicht auf eindeutig definierte, scharfe Grenzen beziehen kann, sondern dass es viele Grauzonen gibt, in denen komplexe Werteentscheidungen getroffen werden. Felt betont: „Ich möchte mich wegbewegen von der moralischen Frage, ob es sich um ‚gute‘ oder ‚böse‘ Forschende handelt, hin zu einer strukturellen Frage und empirisch erforschen, wie in der Wissenschaft Verantwortung wahrgenommen wird oder werden kann. Ist das eine individuelle oder kollektive Entscheidung? Ist es eine Frage von Prozessen? Welche Rolle spielt Ausbildung beim Erwerb der Fähigkeit, Grenzziehungen vorzunehmen?“

Wandel bei Berichterstattung über Grenzüberschreitungen

Zunächst analysierten die Forscherinnen, wie über Betrugsfälle in der Wissenschaft im wissenschaftlichen Raum diskutiert wird. Dabei untersuchten sie, wie in den führenden Journalen Science und Nature von den 1980er Jahren bis heute über Probleme in der wissenschaftlichen Praxis berichtet wird. Ziel war es, besser zu verstehen, wie sich Diskurse dazu verschoben haben und über welche Art von Problemen überhaupt berichtet wird. Dabei wird laut Felt deutlich, welche Themen mit der Zeit größer und welche kleiner geworden sind und wie sich damit auch das Gleichgewicht bei Fragen um Verantwortung verändert hat: „Es lassen sich dabei unglaubliche Verschiebungen in der Frage der Verantwortung ausmachen. Früher wurde von einer Selbstregulation der wissenschaftlichen Gemeinschaft ausgegangen, heute wird die Verantwortung bei Forschungsförderern, Universitäten, Zeitschriften, Departments und Forschungsgruppen verortet; diese sind gemeinsam verantwortlich. Man kann das auch sehr schön an der Figur des Whistleblowers festgemachen: Früher wurden sie als Nestbeschmutzer*innen gesehen, heute ist das auch eine Figur geworden, die in diesem Verantwortungsgeflecht eine Rolle wahrnimmt.“

Durch diese Medienanalyse identifizierten Felt und Frantz zentrale Themen und Dilemmata, über die im Zusammenhang mit guter wissenschaftlicher Praxis berichtet wird, woraus sie Diskussionskarten für ihre kartenbasierte Methode „RESPONSE_ABILITY“ entwickelten. Diese Methode dient dazu, Austausch zwischen Wissenschaftler*innen über Forschungsintegrität zu ermöglichen. Der Name „RESPONSE_ABILITY“ verweist dabei „auf die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, auf immer neue Situationen reagieren zu können, da etwa jede neue Methode neue Fragen mit sich bringt, was als Praxis noch in Ordnung ist und was nicht mehr“, erklärt Felt. „Wir gehen davon aus, dass es besonders für jüngere Menschen schwierig ist, offen über solche Fragen zu reden und sich klar zu werden, wo sie in ihrem Umfeld diese Grenzen bzw. Grenzüberschreitungen sehen. Und die Grenzen verschieben sich ja auch bisweilen.“ Die Diskussionskarten bieten einen Ausgangspunkt, von dem aus den jungen Wissenschafter*innen ermöglicht werden kann, konkret über solche komplexen Fragen nachzudenken und sich mit anderen in ähnlichen Situationen auszutauschen.  

RESPONSE_ABILITY lernen

Felt und Frantz boten zahlreiche Lehr- und Diskussionsveranstaltungen an, in welchen sie die Diskussionsmethode einsetzten. Die teilnehmenden Jungwissenschaftler*innen wurden dazu angeregt, über Fragen zu Werten und Grenzaushandlungen nachzudenken. Konkret sieht die Methode vier Diskussionsrunden zu verschiedenen Themenblöcken vor, wobei die Teilnehmenden in jeder Runde ein bestimmtes Set von Karten wählen, über das sie in der Gruppe diskutieren wollen.

In der ersten Phase wird danach gefragt, welche Werte für die Wissenschaftler*innen in der Forschung am wichtigsten sind – „und das haben sich die Leute oft noch nie explizit überlegt“, so Frantz. Dabei sollen die Teilnehmenden ein Set an Werten nach der Bedeutung für sie und ihren Forschungskontext ordnen. „Das Ziel ist nicht, dass wir sagen, wie es richtig geordnet werden soll, sondern zu sagen: ‚Habt ihr euch eigentlich mal überlegt, welche Werte euch besonders wichtig sind?‘“

In der zweiten Phase stellen Felt und Frantz verschiedene Grenzüberschreitungen, also sogenannte „Transgressions“ von guter wissenschaftlicher Praxis, vor und fragen danach, welche davon in den Forschungsfeldern der Teilnehmenden eine Rolle spielen könnten. Um zu verdeutlichen, wie sehr dieses Diskussionsformat dabei unterstützen kann, Nachdenken zu ermöglichen, erklärt Felt: „Wir haben beispielsweise eine Karte, die sich Sabotage nennt. Üblicherweise sagen die Teilnehmenden, sowas wie Sabotage gibt es bei ihnen nicht. Dann schlagen wir vor nachzudenken: jemand sucht ein Gerät und ich sage nicht, wo es ist, oder ich verheimliche bestimmtes Wissen, das ich besitze, dann sabotiere ich ja die Arbeit von jemand anderem. Und plötzlich fallen den Teilnehmenden ganz viele Beispiele ein, obwohl vorher der Begriff Sabotage in ihren Überlegungen gar keinen Platz hatte.“ Hier wird für Felt auch die Rolle der Sprache selbst deutlich: „Wir haben für diese Dinge, also für Grenzübertretungen und für die Wertefrage insgesamt, keine Sprache außer einer moralisierenden Sprache, und die ist oft nicht hilfreich. Wir müssen davon wegkommen, in dieser Dichotomie gut oder böse zu denken und erkennen, dass selbst in guten Wissenschaftler*innen viele Facetten existieren und dass es dazu kommen kann, an gewissen Grenzen entlang zu schrammen, ohne dass wir uns dessen immer bewusst sind.“

Nachdem sich die Gruppe mit den verschiedenen Beispielen mehr oder weniger kleiner Grenzüberschreitungen auseinandergesetzt hat, geht die Diskussion in eine dritte Phase über, in der die Teilnehmenden aus einem Pool bereits beschriebener Dilemmasituationen zwei wählen können, über die sie gerne diskutieren würden. Zu den Dilemmata werden verschiedene Lösungen angeboten, wobei es Felt und Frantz nicht darum geht, zu sagen „eigentlich müssten sie Lösung B) ankreuzen, weil die wertemäßig am besten ist, sondern wie sieht es denn mit den Werten der Teilnehmenden aus, wie würden sie diese Situationen bewerten.“

Als letzte Phase werden dann die institutionellen Rahmenbedingungen (Conditions of Research) angesprochen: unter welchen Bedingungen leben und arbeiten die Forscher*innen in der Wissenschaft. „Wir gehen davon aus, dass es systemische Probleme gibt, die Leute dazu verleiten, bestimmte Dinge zu tun“, so Felt. „Aber wir bitten die Teilnehmenden, sich erst zum Schluss damit auseinanderzusetzen“, fügt Frantz hinzu. „Wir wollen, dass sie zunächst ihre eigene Haltung und ihre eigenen Werte reflektieren, um damit auch für sich selbst besser herausarbeiten zu können, woran es denn konkret hakt, und nicht einfach nur auf ‚das System‘ zu schimpfen.“ Zum Abschluss der Diskussion sind die Teilnehmenden auch explizit eingeladen, Ideen und Vorschläge aufzuzeigen, welche Veränderungen, im Kleinen und Großen, sie als notwendig erachten, um gute Wissenschaft sicher zu stellen. „Hier werden die Teilnehmenden auch richtig kreativ in ihren Vorschlägen. Von eher utopischen Vorstellungen eines bedingungslosen Forschungsgrundeinkommens, über die Schaffung sicherer Räume, um Unsicherheiten und Probleme zu besprechen, bis hin zu dem Wunsch nach einer grundlegenden Überarbeitung des Review- und Publikationssystems ist alles dabei“, berichtet Frantz.

Aus Betrugsgründen mussten 20 Papiere zurückgezogen werden – was passiert mit den restlichen 80?

Im Anschluss an die Diskussionsrunden führte Felt im Zuge der Lehrveranstaltungen eine „Autopsie eines Betrugsfalles“ mit den Jungwissenschaftler*innen durch: „Ich nehme dazu einen konkreten Betrugsfall und nehme ihn Schritt für Schritt auseinander. Dabei reflektieren wir gemeinsam, was passiert ist: wie hat diese Person gelebt, wo ist sie institutionell verortet, wie und wofür hat sie Belohnungen erhalten, und vieles mehr. Ich versuche also, die Komplexität solcher Fälle aufzuzeigen.“ Zwischen den verschiedenen Schritten des Auseinandernehmens wurden die Teilnehmenden immer wieder dazu aufgefordert, gemeinsam zu reflektieren, was in diesen Situationen passierte. Auch wurden Fragen aufgeworfen, wie beispielsweise mit der wissenschaftlichen Arbeit von Personen umgegangen wird, wenn sie einige ihrer Papers wegen Betruges zurückziehen mussten. Können jene Publikationen, die nicht zurückgezogen wurden, weiterhin verwendet werden? Laut Felt wurde an diesem Beispiel auch deutlich, dass häufig sehr schlampig zitiert wird. So wurden zurückgezogene Papers zum Teil noch zehn Jahre später zitiert – und nicht als Negativbeispiel, sondern als Verweis auf bereits gemachte Forschung. Sie betont: „Man muss sich dabei auch an der eigenen Nase nehmen, es passiert doch allen, dass sie ein Werk zitieren, ohne es bis zur letzten Zeile genau gelesen zu haben.“

Wechselseitiges voneinander Lernen

Das Projekt unterstützt Jungwissenschaftler*innen dabei, über Werte und Grenzen in ihrem Feld nachzudenken, und beeinflusst auch deren Umgebung: „Wir verändern deren Umfeld, dadurch, dass sie plötzlich eine Sprache haben, mit der sie sich zu diesen Themen ausdrücken können.“ Auch erweitern die Wissenschaftsforscherinnen Felt und Frantz ihren eigenen Wissenshorizont durch diese Diskussionsrunden: „Wir lernen eigentlich unglaublich viel von den Teilnehmenden, inhaltlich und methodisch.“ Darüber hinaus beschreibt Felt: „Ich habe von jeder Gruppe sehr viel mitgenommen und zum Beispiel gemerkt, dass ich über dieses oder jenes Thema auch nochmal nachdenken sollte.“

Wie Institutionen denken

Da Felt und Frantz die Frage zur Bedeutung guter wissenschaftlicher Praxis aus möglichst vielen Perspektiven betrachten wollten, untersuchten sie abrundend, inwiefern gute wissenschaftliche Praxis für die Universitäten selbst eine Rolle spielt. Dabei galt ihr Fokus vor allem österreichischen Universitäten. Sie eruierten beispielsweise, wo Verhaltenskodizes auf den Homepages der Universitäten zu finden sind und wie prominent sie dargestellt werden. Sie führten zusätzlich Interviews auf der Führungsebene durch, um besser zu verstehen, wie die Institutionen über gute wissenschaftliche Praxis nachdenken. Dabei bildete sich in den rund zehn Interviews ab, dass Universitäten davon ausgehen, dass vor allem Richtlinien erforderlich sind. „Interessanterweise werden diese Guidelines nicht gelesen“ beschreibt Frantz. „Es scheint vielmehr darum zu gehen, ein Regelwerk zur Hand zu haben für den Fall, dass Übertretungen geschehen und die Universität sich darum kümmern muss. Der Verweis auf die Guidelines ist ein zentraler Teil des Reputationsmanagements von Universitäten, vor allem wenn sie im medialen Rampenlicht stehen.“ Als letzten zentralen Punkt im Denken der Unis identifizierten Felt und Frantz den Cluster Training und Technologien der Kontrolle, wobei es um das Formen und Ausbilden der nächsten Generationen geht. Hierbei erklärt Felt: „So ein Next-Generation Prinzip ist auch breiter gesehen eine sehr spannende Sache. Wir glauben bei vielen Problemen, die als moralische Probleme wahrgenommen werden, dass wir sie nur über die nächste Generation lösen können. Dabei schwingt ein Verschieben von Verantwortung von heute in die nächste Generation mit.“ (ht)

Eckdaten zum Projekt