Die Tücken des Tauens
Überblick
- Permafrostböden sind klimawandelbedingt starker Veränderung ausgesetzt, die vor allem Gebiete und Menschen im arktischen Raum vor besondere Herausforderungen stellt.
- Welche Auswirkungen und Risiken mit diesen Veränderungen verbunden sind, untersuchte das interdisziplinäre Projekt Nunataryuk, an dem auch ein Team von Kultur- und Sozialanthropolog*innen der Universität Wien beteiligt war.
- Dabei entstand auch der Arctic Permafrost Atlas, der ein umfangreiches Portrait von Regionen und Menschen, für die Permafrost zentral ist, vermittelt.
In dem Projekt Nunataryuk, welches „Land zu Meer“ in einer der Inuitsprachen (Inuvialuktun) bedeutet, arbeiteten Wissenschafter*innen aus verschiedensten Disziplinen, wie etwa Biologie, Ingenieurswesen, Geologie, Hydrologie, Mathematik, Geochemie, Ökonomie und Kultur- und Sozialanthropologie zusammen, um die Auswirkungen des zunehmenden Tauens der Permafrostböden aus verschiedenen Perspektiven zu untersuchen. Kultur- und Sozialanthropolog*innen der Uni Wien um Peter Schweitzer, Susanna Gartler, Alexandra Meyer und Olga Povoroznyuk untersuchten die Wahrnehmung von Risiken und brachten das Wissen der verschiedenen Disziplinen zusammen.
Permafrost ist Boden, der für mindestens zwei konsekutive Jahre und unabhängig von Jahreszeiten stets gefroren ist. Dieser ist weltweit zu finden, macht jedoch vor allem in der Arktis große Teile des Bodens aus, weshalb die arktischen Regionen von Kanada, den USA, Grönland, Russland und Norwegen im Fokus der Forscher*innen von Nunataryuk standen. Das zunehmende Tauen der Permafrostböden hat gravierende Auswirkungen, die sich etwa auf Ernährungssicherheit, Lebensweise und Infrastruktur auswirken. Die tauenden Böden wirken sich nicht nur regional, sondern auch global auf den Klimawandel aus, da immense Mengen von organischem Karbondioxid in den Tiefen des Permafrost gespeichert sind, welche drohen, aufzutauen.
Interdisziplinäres Zusammenarbeiten
Um die zahlreichen komplexen Facetten, die das Tauen des Permafrosts mit sich bringt, adäquat beleuchten zu können, kamen Forscher*innen zahlreicher Disziplinen in dem EU Horizon 2020 geförderten Projekt Nunataryuk zusammen und untersuchten das Schmelzen des Permafrostbodens aus verschiedenen Perspektiven. Herausfordernd war dabei in dem interdisziplinären Kontext der Forschung vor allem das Finden einer gemeinsamen Kommunikationsebene: „Zu Beginn des Projekts gab es die Idee, dass der Begriff Risiko einer sein könnte, der die zahlreichen verschiedenen Disziplinen in diesem Projekt zusammenbringt“, so Schweitzer, der den Projektteil an der Uni Wien leitete. Da jede Disziplin eigene Definitionen von Risiko hat, waren gerade am Anfang zahlreiche Diskussionen erforderlich, bis sich da Projektteam auf eine gemeinsame Arbeitsdefinition einigen konnte. „Schlussendlich haben wir ein interdisziplinäres Verständnis von Risiko entwickelt, das drei Komponenten enthält. Diese sind die physikalischen Prozesse, die zentralen Probleme und deren gesellschaftlichen Auswirkungen, die mit dem zunehmenden Schmelzen der Permafrostböden einhergehen“, erklärt Susanna Gartler. Da sie als Anthropolog*innen darauf trainiert seien, mit unterschiedlichsten Menschen zu kommunizieren, seien für sie die Diskussionen besonders spannend. „Auch disziplinär unterschiedliche Arten, über etwas zu reden, und unterschiedliche Verständnisweisen von Risiko können als verschiedene kulturelle Traditionen gesehen werden“, meint Gartler.
Disziplinübergreifende Risikoanalyse
Aus dieser disziplinär bedingten besonderen Kommunikationsfähigkeit ergab sich auch, dass Susanna Gartler und Alexandra Meyer als Anthropolog*innen, gemeinsam mit Ingenieurswissenschafterin Johanna Scheer von der Dänisch Technischen Universität, die disziplinenübergreifende Risikoanalyse federführend vorantrieben. „Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, alle Informationen zu Risiken in Bezug auf Permafrosttau und Permafrostbildung zusammenzutragen. Wir wollten all diese Perspektiven der verschiedenen Disziplinen in einen Guss bringen, der auch für ein nichtwissenschaftliches Publikum verständlich ist“, so Gartler.
Dabei wurden folgende fünf Hauptprobleme oder Key Hazards identifiziert: Herausforderungen für Lebensmittelsicherheit, Versagen von Infrastruktur, Störungen von Mobilität und Versorgung, sinkende Wasserqualität, Exposition gegenüber Infektionskrankheiten und Schadstoffen. Dabei wurde herausgearbeitet, mit welchen physikalischen Prozessen diese in Zusammenhang stehen und darauf aufbauend analysiert, mit welchen gesellschaftlichen Auswirkungen diese Probleme in Verbindung zu sehen sind.
Arbeit mit lokalen Bevölkerungen
Die Forschung im Projekt Nunataryuk fand an vielen Orten statt, wobei die Sozialwissenschafter*innen mit dort ansässigen Menschen kooperierten, um mehr über deren Leben und Herausforderungen mit Permafrost zu lernen. Die Orte unterscheiden sich sowohl hinsichtlich der physikalischen als auch der kulturellen, sozialen und politischen Bedingungen stark voneinander. „Wie wir also mit verschiedenen Personen und Institutionen forschten, hängt maßgeblich von den dortigen Gegebenheiten ab“, so Schweitzer. Während Susanna Gartler im Mackenzie River Delta in Kanada vor allem mit der Lokalbevölkerung und indigenen Landnutzer*innen arbeitete, gestaltete sich die Forschung von Olga Povoroznyuk und Peter Schweitzer in Russland deutlich anders: „Der Kontakt zur Lokalbevölkerung konnte nicht so offen sein, da der Geheimdienst uns ständig über die Schultern schaute. Zudem ist es eine deutlich stärker hierarchisierte Gesellschaft mit stärkerer Wissenschaftsgläubigkeit. Wir wurden von verschiedenen Menschen häufig an vermeintliche Expert*innen, die ein Diplom haben, verwiesen“, so Schweitzer. Nach dem Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine musste die Forschung in Russland gänzlich abgebrochen werden. Die Inselgruppe Svalbard (Spitzbergen) wiederum, wo Alexandra Meyer forschte, ist ein Zentrum internationaler wissenschaftlicher Forschung und besitzt keine Indigene Bevölkerung.
Untersucht werden von den Anthropolog*innen die Risikowahrnehmungen in Verbindung mit Permafrosttau. „Es ging uns einerseits darum, herauszufinden, was Lokalbevölkerungen als Risiko wahrnehmen und andererseits auch darum, Erkenntnisse aus der Wissenschaft an die dort ansässigen Menschen zu kommunizieren“, so Gartler. Die Risiken, die mit Permafrosttau einhergehen, sind weitreichend. So können Siedlungen und Infrastrukturen, etwa durch Herabsinken des aufgetauten und weichen Bodens zerstört werden, auch die Lagerung von Lebensmitteln in temperaturstabilen Permafrostkellern ist nicht mehr gesichert. „In der Arktis wurde in der Vergangenheit auch oftmals industrieller Abfall im Permafrost entsorgt mit der Annahme, dass er ohnehin für immer gefroren ist. Durch das Tauen laufen solche ‚Sumps‘ jetzt Gefahr, angrenzende Regionen toxischer Belastung auszusetzen und somit Pflanzen, Tieren und Menschen zu schaden“, erklärt Gartler.
Arctic Permafrost Atlas
Bei der Vermittlung von Wissen um tauenden Permafrost an eine breitere Bevölkerung außerhalb der Wissenschaft spielt auch der Arctic Permafrost Atlas eine zentrale Rolle. Dieser Atlas ist im Hinblick auf Wissenschaftskommunikation das Hauptprodukt, das aus dem Projekt Nunataryuk entstanden ist. Der Arctic Permafrost Atlas ist ein Buch, in dem Wissen zu Permafrost, dessen Zusammenhang mit Klimawandel, Veränderungen im Permafrost und Tau, sowie Anpassungen an diese steten Veränderungen mithilfe von Texten, Illustrationen und Karten aufbereitet wurde. Die von Susanna Gartler und Alexandra Meyer initiierte Risikoanalyse wurde hier auch anschaulich in einem Fold-Out für den Arctic Permafrost Atlas illustriert. „Ich habe letzten Sommer rund 150 der Atlanten an Menschen und Institutionen in Kanada verteilt, mit denen wir in den letzten Jahren im Zuge von Nunataryuk eng zusammengearbeitet haben“, erinnert sich Susanna Gartler. „Wirklich jede Person, der wir den Atlas gezeigt haben, war begeistert von diesem Produkt“.
Der Atlas hilft den Forscher*innen auch dabei, mit lokalen Informant*innen im Zuge ihres Folgeprojektes Illuq in Kontakt zu treten: „Es ist immens hilfreich, nicht mit leeren Händen aufzutauchen und nur Information zu wollen, sondern lokalen Bevölkerungen auch eine Gegenleistung in Form des Atlanten geben zu können. Gerade sozialwissenschaftliche Forschung sollte eine Form von Austausch sein, nicht nur ein Nehmen seitens der Wissenschafter*innen“, so Schweitzer. Zudem gäbe der Atlas gleich gemeinsame Bezugspunkte, über die man gut in ein fokussiertes Gespräch mit Informant*innen einsteigen könne.
Der Arctic Permafrost Atlas stößt jedoch auch über die Grenzen der Arktis hinaus auf reges Interesse. Ein Panel der am Austrian Polar Research Institute (APRI) eingebundenen Wissenschafter*innen verschiedener Disziplinen präsentierte den Arctic Permafrost Atlas am 16.10.2024 im Naturhistorischen Museum in Wien als Teil der dort stattfindenden Polar Talks. Im Publikum waren Personen, die sich beruflich mit der Thematik beschäftigen, Studierende unterschiedlicher Disziplinen, und generell interessierte Personen. Das Interesse zeigte sich auch an den zahlreichen Fragen, die das Publikum am Ende des Vortrages an die Wissenschafter*innen stellte, und den daraus resultierenden Diskussionen. „Ich kenne Personen, die mit der Arktis nichts am Hut haben, und trotzdem zur Veranstaltung kamen, da sie sich für das Format des Atlas interessieren und für andere Projekte ein ähnliches Produkt entwickeln wollen“, so Schweitzer. Zudem sei es gerade in Zeiten von zunehmender Wissenschaftsskepsis wichtig, Forschungsprojekte und deren Ergebnisse und Endprodukte öffentlich zugänglich zu präsentieren. Darüber hinaus ist es im Kontext der Klimakrise entscheidend, die breite Bevölkerung möglichst umfassend und fundiert über verschiedene Aspekte, wie zum Beispiel den arktischen Permafrost, zu informieren. (ht)
Eckdaten zum Projekt
- Projekttitel: Nunataryuk
- Laufzeit: 11/2017 – 10/2023
- Projektteam: Prof. Peter Schweitzer, Dr. Alexandra Meyer, Mag. Susanna Gartler, Dr. Olga Povoroznyuk
- Beteiligte und Partner*innen: Siehe Projektwebsite
- Institut: Institut für Kultur- und Sozialantropologie
- Finanzierung: EU Horizon 2020
Publikationen
- Gartler, Susanna, Johanna Scheer, Alexandra Meyer, Khaled Abass, Annett Bartsch, Natalia Doloisio, Jade Falardeau, et al. “A Transdisciplinary, Comparative Analysis Reveals Key Risks from Arctic Permafrost Thaw.” Communications Earth & Environment 6, no. 1 (January 16, 2025): 1–20. https://doi.org/10.1038/s43247-024-01883-w.