Nach der Flucht ist vor der Integration
Überblick
- In über 60 Leitfadeninterviews untersucht ein Wiener Forschungsteam verschiedene Perspektiven zur Integration von asyl- und subsidiär schutzberechtigten Afghan*innen.
- Jede Stimme soll gehört werden: In der Studie bekommen neben Expert*innen auch betroffene Menschen Raum, über ihre Erfahrungen zu sprechen.
- Wissenschaft wirkt in die Politik hinein: Die Forschungsergebnisse fließen direkt in konkrete Integrationsempfehlungen an die österreichische Politik.
Von Afghanistan nach Österreich – und was kommt dann? In einer Studie untersuchen Gabriele Rasuly-Paleczek und Doris Friedrich vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie Integrationsverläufe von asyl- und subsidiär schutzberechtigten Afghan*innen in Österreich. Ihr Forschungscredo: Jede Stimme soll gehört werden.
Demokratie und Meinungsfreiheit, Geschichte und Landeskunde oder Regeln des guten Zusammenlebens – in Werte- und Orientierungskursen des Österreichischen Integrationsfonds sollen Migrant*innen auf ihr Leben in Österreich vorbereitet werden. Doch gibt es für Integration ein Erfolgsrezept? Das beschäftigt auch die Uni-Wien-Wissenschafterinnen Gabriele Rasuly-Paleczek und Doris Friedrich. Für ihre aktuelle Studie, die gemeinsam mit dem Institut für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) durchgeführt wird, erheben die Forscherinnen in über 60 Leitfadeninterviews verschiedene Perspektiven auf das Thema Integration von Afghan*innen. Zu Wort kommen Expert*innen aus den Bereichen Wohnen, Soziales, Bildung und Geschlechtergleichstellung, VertreterInnen von afghanischen Vereinen sowie Menschen mit diversen Fluchtwegen und Fluchthintergründen.
Vor allem junge Menschen mit Schulbildung sehen keine Zukunft mehr in Afghanistan
"In den 1970er-Jahren kamen um die 150 Menschen aus Afghanistan zum Studieren nach Österreich, die erste, große Fluchtbewegung setzte aber erst 1979, mit der sowjetischen Invasion in Afghanistan, ein", erklärt Projektleiterin Gabriele Rasuly-Paleczek. Bis heute fliehen zahlreiche Afghan*innen nach Österreich. Die Gründe dafür sind vielfältig: „Neben der sich seit 2014 zunehmend verschlechternden Sicherheitslage und einer allgemeinen Perspektivenlosigkeit, vor allem unter der kleinen Schicht gut ausgebildeter junger Afghan*innen, spielt auch die rigide Politik gegenüber afghanischen Flüchtlingen in den klassischen Aufnahmeländern Iran und Pakistan eine Rolle“, so die Forscherin. „In beiden Staaten sind sie mit vielfachen Diskriminierungen konfrontiert. Beispielsweise ist im Iran afghanischen Flüchtlingen, auch jenen, die dort geboren wurden, der Besuch staatlicher Bildungseinrichtungen verwehrt.“
Jede Stimme soll gehört werden
In Österreich angekommen, sind geflüchtete Menschen oftmals struktureller Benachteiligung ausgesetzt und stoßen an eine „gläserne Decke“, berichtet Gabriele Rasuly-Paleczek, die sich bereits seit Jahrzehnten – sowohl wissenschaftlich als auch humanitär – mit Afghanistan beschäftigt. „Einerseits gibt es die Forderung, dass Afghan*innen die deutsche Sprache und kulturelle Codes erlernen sollen, andererseits wird ihnen in Österreich wenig Offenheit entgegengebracht. In unserer Studie sollen betroffene Menschen Raum bekommen, auch darüber zu sprechen. Jede Stimme soll gehört werden“, ergänzt Doris Friedrich.
Ein ‚positiver Nebeneffekt‘ ist, dass die afghanischen Projektmitarbeiter*innen geschult werden und methodische Zusatzqualifikationen erlangen
„Aus Erfahrung können wir sagen: Es ist schwierig, Afghan*innen für Studien zu rekrutieren. Insbesondere geflüchtete Frauen treten nicht so stark in Erscheinung und sind im öffentlichen Raum eher unsichtbar“, berichten die Forscherinnen. Was den Kontakt zur Community vereinfacht: Im Forschungsprozess wirken Menschen mit Fluchterfahrungen mit und fungieren als ‚gate opener‘ im Feld. „Die afghanischen Mitarbeiter*innen – ein junger Afghane, der derzeit an der Universität Wien den Vorstudienlehrgang besucht, sowie eine junge Afghanin, die gerade ein Studium der Zahnmedizin begonnen hat – sprechen Dari – die Lingua franca Afghanistans – und können mit den Interviewpartner*innen in ihrer Landessprache kommunizieren. Ein ‚positiver Nebeneffekt‘ ist, dass die Interviewer*innen im Rahmen des Projekts geschult werden und methodische Zusatzqualifikationen erlangen“, freut sich Gabriele Rasuly-Paleczek.
Diverse Variablen sind für die Integration relevant
Gabriele Rasuly-Paleczek und Doris Friedrich können bereits von ersten Ergebnissen berichten: „Geflüchtete, die in den 1960er-Jahren in Afghanistan aufgewachsen sind, waren stark von der Europäisierung beeinflusst und treten für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern oder für die Trennung von Religion und Politik ein. Junge Männer, die erst jüngst nach Österreich gekommen sind, vorher in Pakistan oder im Iran gelebt haben, weisen ein tendenziell eher konservatives Wertesystem auf. Bildung, Herkunft, Fluchthintergrund – das Beispiel zeigt uns, dass diverse Variablen für die Integration relevant sind."
Mein Anspruch ist, dass Wissenschaft nicht im Elfenbeinturm stattfindet, sondern in die Öffentlichkeit herausgetragen wird und daraus positive Politik entsteht
Die an der Universität Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften angesiedelte Studie wird vom Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres finanziert. Solange die Forschung nicht für politische Zwecke instrumentalisiert wird, sehen die Wissenschafterinnen in „Auftragsforschung“ kein Problem. „Wir haben unsere Leitfragen mit Mitarbeiter*innen des Ministeriums abgestimmt und werden die Ergebnisse der Studie gemeinsam diskutieren“, berichten die gut vernetzten Kultur- und Sozialanthropologinnen. An einem Round Table mit NGOs und Vertreter*innen aus der Politik sollen aus den Ergebnissen konkrete Integrationsempfehlungen abgeleitet werden. „Mein Anspruch ist, dass Wissenschaft nicht im Elfenbeinturm stattfindet, sondern in die Öffentlichkeit herausgetragen wird und daraus positive Politik entsteht“, so Gabriele Rasuly-Paleczek. (il)
Hintergrundinformationen
- Die erste, große Fluchtbewegung von Afghanistan nach Wien setzte 1979 mit der sowjetischen Invasion in Afghanistan ein.
- Mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft 1992, den anschließenden/nachfolgenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Mujaheddin-Gruppierungen und der Machtübernahme durch die islamistisch orientierten Taliban kam es zu neuerlichen Fluchtbewegungen.
- Im Jahr 2015 stellten 25.475 AfghanInnen einen Asylantrag in Österreich. Darunter waren zahlreiche unbegleitete Minderjährige (UMF). Sie stellen mit 68 Prozent aller UMF die größte Gruppe dar (Quelle: BMI – Sektion III Recht (Hg.) (2015): Vorläufige Asylstatistik. Dezember 2015).
- Im Jahr 2016 stellten 11.794 AfghanInnen einen Asylantrag in Österreich (Quelle: Statistik Austria).
Eckdaten zum Projekt
- Titel: „Integrationsverläufe Asylberechtigter und subsidiär Schutzberechtigter aus Afghanistan in Österreich“
- Laufzeit: März 2017 – Februar 2018, verlängert bis Mai 2018
- Projektteam: Gabriele Rasuly-Paleczek, Doris Friedrich – Universität Wien | Josef Kohlbacher, Mona Röhm, Victoria Reitter – Österreichische Akademie der Wissenschaften
- Institut: Institut für Kultur- und Sozialanthropologie
- Finanzierung: Bundesministerium für Europa, Integration, Äußeres (BMEIA)
Links
- Projektwebseite
- Mehr als Flucht. Initiativen und Hintergründe aus Kultur- und Sozialanthropologischer Perspektive
- Gebriele Rasuly-Paleczek (2017): Many Reasons for Leaving Afghanistan: Social Obligations in Times of Protracted Violence. In: Josef Kohlbacher und Leonardo Schiocchet: From Destination to Integration – Afghan, Syrian and Iraqi Refugees in Vienna, Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. DOI: 10.1553/ISR_FB045s57 (Open Access).
- Josef Kohlbacher/Marie Lehner/Gabriele Rasuly-Paleczek (2020): Afghan/inn/en in Österreich - Perspektiven von Integration, Inklusion und Zusammenleben. Institut für Stadt- und Regionalforschung (Hg.), Forschungsberichte Band: 52. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.