Eine Hand hält Pillen, Blister im Hintergrund

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„Weniger ist mehr?“: Studie erforscht bessere Verschreibungspraktiken bei Medikamenten in Österreich

Überblick

  • Janina Kehr, Lisa Lehner, Igor Grabovac und Honja Hama untersuchen das Problem des Zu-viel-Verschreibens von Benzodiazepinen und Antibiotika in Österreich.
  • Dabei sollen Handlungsempfehlungen für sogenanntes „De-Prescribing“ erarbeitet werden, damit Medikamente weniger beziehungsweise besser verschrieben werden können.
  • Im Zuge des Projekts werden Systemdaten ebenso wie Erfahrungen von Partient*innen und Ärzt*innen gesammelt und über Workshops und Vorträge Bewusstsein geschaffen: Könnte man weniger verschreiben oder welche Alternativen könnten helfen?

Benzodiazepine und Antibiotika sind Beispiele für Medikamente, von denen man gemeinhin „weniger“ verschreiben sollte. Bei hochwirksamen Schlaf- und Beruhigungsmitteln wie Benzodiazepinen besteht die Gefahr von Abhängigkeit, während die Resistenz von Bakterien gegen Antibiotika stetig zunimmt. Ein Team am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie hat sich gemeinsam mit Kolleg*innen an der Medizinischen Universität Wien zum Ziel gesetzt, Verschreibungspraktiken für diese Substanzen grundlegend zu erforschen und zu fragen: Wie kann weniger oder besser verschrieben werden – und was braucht es dazu?

„Wir befinden uns aktuell in einer Situation, die als Pharmazeutikalisierung von öffentlicher Gesundheit beschrieben werden kann,“ erklärt Janina Kehr, Professorin für Medizinanthropologie und Global Health am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie (IKSA) der Universität Wien. „Das bedeutet, gesundheitliche Probleme werden vorrangig gelöst, indem Medikamente verschrieben werden. Teilweise löst es die Probleme, teilweise wird aber auch das Grundproblem dahinter nicht angegangen.“ Im Zuge des vom Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds (WWTF) geförderten Projekts „Less is More?“ werden Verschreibungspraktiken daher anhand zweier Beispielsubstanzen, Benzodiazepinen und Antibiotika, untersucht. Bei Benzodiazepinen, bekannt als hochwirksame Schlaf- und Beruhigungsmittel, ist eine Verschreibung aufgrund des Abhängigkeitspotenzials und bei Antibiotika aufgrund von Resistenzbildungen ein zunehmendes Problem. Das Team am IKSA bilden Janina Kehr und Lisa Lehner. Co-Projektleiterin Lehner kombiniert in ihrer Arbeit Ansätze aus der Medizinanthropologie und der Wissenschaftsforschung mit kritischen Zugängen zur Public Health. Vervollständigt wird das interdisziplinäre Projektteam von Igor Grabovac, außerplanmäßiger Professor und Facharzt für Public Health in der Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin an der Medizinischen Universität Wien, sowie der Doktorandin Honja Hama.

Das Projekt versucht sich dem Thema des „Weniger-Verschreibens“ – dem sogenannten De-Prescribing – zu nähern. Verschreibungspraktiken werden dabei ganz grundlegend erforscht, um zu verstehen, wie überhaupt verschrieben wird und was es braucht, damit womöglich weniger oder zielgerichteter verschrieben werden könnte. Zentral dafür ist, laut Lisa Lehner, über individuelle Verantwortlichkeiten von Verschreiber*innen und Nutzer*innen hinauszugehen und gesellschaftliche Bedingungen bzw. systemische Prozesse dahinter zu betrachten.

Unterschiedliche Methoden und Blickwinkel, um möglichst viele Perspektiven zu berücksichtigen

„Wir wissen, dass oft zu viel und zu früh verschrieben wird. Was wir nicht wissen, ist, ob Österreich besser oder schlechter dasteht im europäischen Vergleich. Wir brauchen eigentlich ein Monitoring, um Antworten auf diese Fragen geben zu können“, erläutert Igor Grabovac. Um an relevante Daten zu kommen, wird mit unterschiedlichen Methoden gearbeitet, wobei quantitative und qualitative Methoden miteinander verknüpft werden. „Wir haben damit sehr viele Perspektiven und Blickwinkel, die wir im Projekt berücksichtigen können“, erläutert Honja Hama.

Das Problem besteht zunächst hauptsächlich darin, dass es so gut wie keine oder keine leicht zugänglichen Daten gibt, aus denen Schlüsse gezogen werden können. An die Zahlen der tatsächlich verschriebenen und eingenommen Medikamente zu kommen, ist nicht einfach. „Krankenkassen erfassen zwar Abrechnungsdaten, also an österreichischen Apotheken abgeholte Medikamente, deren Kosten von den Krankenkassen rückerstattet werden. Aber das bedeutet nicht, dass diese Daten der öffentlich finanzierten Forschung zugänglich sind“, erklärt Lisa Lehner. „Dazu kommt noch, dass alles, was unter der Rezeptgebühr ist, von den Krankenkassen gar nicht erfasst wird. Schließlich gibt es noch eine inoffizielle Zirkulation von Medikamenten: Menschen geben zum Beispiel ein verschriebenes Medikament innerhalb der Familie weiter, weil jemand ähnliche Symptome zeigt.“ Schlussendlich konnte das Team eine Kooperation mit der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) eingehen, um quantitative Verschreibungsdaten oberhalb der Rezeptgebühr analysieren zu können. Für die „Lücke“ an real abgeholten und bezahlten Medikamenten arbeitet das Team an der ersten retrospektiven Panelstudie in Österreich mit teilnehmenden Arztpraxen. Hierbei werden Ärzt*innen wiederholt befragt, um Veränderungen in den Verschreibungen über die vergangenen Jahre abbilden zu können.

Wie Medikamente tatsächlich verschrieben werden und welche Bedeutungen dahinterliegen, wird parallel durch qualitative Methoden erforscht. Der Fokus der Untersuchungen liegt vorwiegend im niedergelassenen Bereich in Wien. Vor allem werden mit Ärzt*innen und Patient*innen Interviews über ihre Erfahrungen geführt. Diese zeigen bisher die Wichtigkeit von systemischen und strukturellen Ansätzen beim De-Prescribing: von Medikamenten-Alternativen zu Handlungsempfehlungen und breiten gesellschaftlichen Veränderungen, was Einstellungen zu Krankheit, Stress oder psychischer Gesundheit betrifft.

Das System verschreibt sozusagen mit

Die ersten Ergebnisse der qualitativen Forschung bestätigen also klar, dass es nicht alleine eine individuelle Sache der Patient*innen oder Ärzt*innen ist, ob ein Medikament verschieben wird. „Das System verschreibt sozusagen mit. Das zeigt sich besonders gut am Beispiel der psychischen Gesundheit“, erklärt Lisa Lehner. „Im Falle psychischer Krankheitserfahrungen geht es nicht nur um den Zugang zu Medikamenten. Systemisch sind auch der Ausbau von Therapieplätzen, Suchthilfe und Beratung ein wichtiger Schritt, um weniger Benzodiazepine verschreiben zu müssen. Es braucht aber auch ein Bewusstsein über die sozialen und damit politischen Komponenten von Krankheit und Gesundheit. Schlafstörungen, die mit Stress und Leistungsdruck verbunden sind, erfordern auch kollektive, gesellschaftliche Lösungen im Bereich der Ursachen. Auch den Abbau von Stigma rund um psychische Erkrankungen braucht es.“

Das Projektteam betont, dass man keinesfalls grundsätzlich gegen die Verschreibung beziehungsweise Einnahme von Medikamenten sei. De-Prescribing ziele jedoch darauf ab, zu überlegen, ob eine Einnahme tatsächlich oder immer noch notwendig ist. Dafür ist es wichtig, bei allen Beteiligten und mit allen Beteiligten ein Bewusstsein zu schaffen: Könnte man weniger verschreiben oder welche Alternativen könnten helfen? Bei der Verschreibung von Beruhigungsmitteln sei es außerdem wichtig, Coping-Mechanismen zu berücksichtigen, die Betroffenen helfen können, den Alltag besser zu bewältigen. „Alle bei einer Verschreibung involvierten Akteur*innen sollten sich bewusst machen, dass mit der Verschreibung nicht unbedingt alles immer sofort gelöst ist“, hält Kehr fest. Um das Bewusstsein diesbezüglich zu schulen, geht das Team auch mit Workshops in ärztliche Fachgesellschaften und an die breite Öffentlichkeit, um auch den gesellschaftlichen Diskurs mit- und umzuprägen.

Nachhaltiger Umgang mit Medikamenten

Igor Grabovac weist darauf hin, dass es in Zukunft immer häufiger zu Medikamentenengpässen kommen wird. Der Bedarf an Medikamenten werde weiterhin steigen, die Produktion komme dahingehend bereits an Grenzen, insbesondere wenn zunehmende Antibiotikaresistenzen berücksichtigt werden. Relevant ist außerdem die Endlichkeit von Ressourcen für die Produktion von Medikamenten. So gehört ein nachhaltiges Wirtschaften in Bezug auf die Produktion von Medikamenten ebenso dazu, wie soziale Möglichkeiten und Alternativen für Akteur*innen und Konsument*innen. Ein ganzheitlicher Blick auf die Probleme der Partient*innen könne hier unterstützen. „Dies ist umso wichtiger, da das Gesundheitssystem stark fragmentiert ist und eine Möglichkeit zur Verbesserung der Situation darin besteht, neue Modelle bereitzustellen, die sich auf eine integrierte Versorgung konzentrieren. Das bedeutet nicht nur eine bessere Koordination und Kommunikation innerhalb des Gesundheitssystems, sondern auch mit anderen Systemen wie dem Sozial-, Bildungs-, Justizsystem und anderen“, betont Grabovac.

Handlungsempfehlungen erarbeiten

„Es gibt zwar viele verschiedene Verschreibungsrichtlinien für unterschiedliche Kontexte, allerdings kann es für Verschreiber*innen komplex sein, hier auf dem aktuellen Stand zu bleiben oder sich in dieser Vielzahl zurechtzufinden – insbesondere in stressigen Praxissituationen. Unsere Forschung zeigt deshalb auch, dass es neben den bestehenden Richtlinien zusätzliche strukturelle Handlungsempfehlungen braucht“, erklärt Honja Hama. Ziel des Projekts ist es daher, Handlungsempfehlungen in Form eines Maßnahmenkatalogs zu erarbeiten: eine Art erster Entwurf für die durch das Projekt zutage geförderten Herausforderungen und Veränderungsmöglichkeiten. Diese Handlungsempfehlungen des Projektteams werden im Rahmen von Workshops mit Beteiligten – darunter auch Entscheidungsträger*innen aus Ministerium, Fachgesellschaften und Stadt Wien – überprüft, diskutiert und noch besser anwendbar gemacht. Der abschließende Maßnahmenkatalog könnte der Politik dabei helfen, Strukturveränderungen anzustoßen und langfristig die richtigen Maßnahmen für Verbesserungen von Medikamentennutzung zu implementieren. Die Handlungsempfehlungen sollen aber auch direkt im niedergelassenen Bereich Ärzt*innen bei der Verschreibung von Medikamenten unterstützen.

Die Nachfrage in Bezug auf die Ergebnisse ist groß: Auf Wunsch des Bundesministeriums für Gesundheit wurden erste Erkenntnisse bereits mehrmals im Rahmen öffentlicher Symposia aufbereitet. Vorträge und Workshops wurden etwa für Allgmeinmediziner*innen angeboten – national für die Österreichische Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM) oder international im Rahmen des Netzwerks für De-Prescribing. Je nach adressierter Öffentlichkeit werden die Ergebnisse des Projekts aufbereitet und zugeschnitten, um bestehende Diskurse aktiv mitzugestalten, aber auch um Patient*innenperspektiven zu repräsentieren, die oft generell fehlen. Dabei zeigt sich, dass der Wunsch nach Austausch da sei und die Mission, das Gesundheitswesen für die nächsten Jahrzehnte fit zu machen, von allen Akteur*innen mit Interesse verfolgt werde. „Wir brauchen mehr Therapieplätze für Psychotherapie und mehr Zeit für Allgemeinärzt*innen, um die Probleme der Patient*innen holistischer angehen zu können. Außerdem brauchen wir weniger Leistungsdruck bei der Arbeit. Menschen sollten sich auskurieren können; ein Recht auf Krankheit und Genesung sollte nicht einem alleinigen Fokus auf Produktivität und einer voreiligen Rückkehr an den Arbeitsplatz geopfert werden“, insistiert Janina Kehr abschließend. (ab)

Eckdaten zum Projekt

  • Projekttitel: Less is More?: De-Prescribing Pharmaceuticals for Patient Safety and Sustainable Public Health
  • Laufzeit: 05/2023 – 04/2026
  • Projektteam: Janina Kehr, Lisa Lehner
  • Beteiligte und Partner*innen: Igor Grabovac, Honja Hama (Medizinische Universität Wien, Zentrum für Public Health, Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin)
  • Institut: Institut für Kultur- und Sozialanthropologie
  • Finanzierung: WWTF

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