Abstraktes Bild mit Bäumen und einem Vogel

© MiCREATE

Auch Kinder haben was zu sagen

Überblick

  • Sind Kinder mit Migrationsgeschichte an Österreichs Schulen wirklich so schlecht integriert? Und wenn ja, woran liegt es?  Wie kann Integration an Schulen besser gelingen?
  • Das internationale Forschungsteam von MiCREATE holt die Kinder vor den Vorhang, denn sie sind es, die gehört werden sollten.
  • Ziel des Projektes ist die Förderung von Kindern mit Migrationsgeschichte in der Bildung und auf politischer Ebene, durch einen kindzentrierten Ansatz – damit alle Kinder ein gutes Leben leben können.

Österreichs Bildungspolitik ist ungerecht – Kinder mit Migrationsgeschichte, die gerade an städtischen Schulen einen Großteil der Schüler*innenschaft ausmachen, haben in unserem Schulsystem wenig Aufstiegschancen und werden wenig gehört. Es wäre im gesamtgesellschaftlichen Interesse, das zu ändern – doch ein evidenzbasierter Diskurs über Integration an Schulen fehlt. Ein Team um Birgit Sauer will das mit dem Forschungsprojekt MiCREATE ändern, und zwar mit kindzentrierter Wissenschaft für eine kindzentrierte Politik. Denn Kinder sind wichtige gesellschaftliche Akteur*innen, über die gerne bestimmt wird – mitreden können sie dabei aber selten.

Das Projekt MiCREATE, gefördert von der Europäischen Union, analysiert die Situation von mehr als 500 Kindern mit Migrationserfahrung in Schulen und Aufnahmezentren für minderjährige Geflüchtete in zehn europäischen Ländern (Österreich, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Italien, Polen, Slowenien, Spanien, Türkei und Vereinigtes Königreich) in den Jahren 2019 bis 2021. Birgit Sauer und ihr Team vom Institut für Politikwissenschaft forschten dabei mit Kindern, die selbst erst vor kurzem in Österreich angekommen sind, sowie mit Kindern, die länger als 5 Jahre in Österreich wohnen und Kindern, die hier geboren wurden.

Die Bedürfnisse von Kindern werden oft nicht berücksichtigt, sie werden nicht richtig gehört und fühlen sich auch nicht gehört. Dabei sind sie wichtige gesellschaftliche Akteur*innen und haben eine Meinung zu vielen Themen. Sie nehmen an der Gesellschaft teil, können aber nicht richtig partizipieren, denn oft fehlen der Wille, das Bewusstsein und nicht zuletzt die physischen Räume dafür. Es wird über Kinder gesprochen, nicht mit ihnen, und in den Diskursen über Integration fehlen meist die Perspektiven der Kinder und Jugendlichen. Ein kindzentrierter Ansatz, der die Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt rückt, ist daher das zentrale Element von MiCREATE.  

In einem ersten Forschungsschritt 2019 wurden Expert*inneninterviews mit Politiker*innen und NGOs geführt und im Zuge dessen good practice Ansätze identifiziert. „Bildungs- und Integrationspolitik, so die Conclusio, muss sich am Wohle der Schüler*innen orientieren und dazu die Dichotomie von ‚Migrant*innen‘ versus ‚Nicht-Migrant*innen‘, die besonders im Diskurs um Schule bedient wird, bekämpfen. Denn die Realität ist: Eine plurale Schule ist nicht das Problem, sie gehört längst zum Alltag der Schüler*innen und Lehrer*innen. Vielmehr ist es unser Bildungssystem, das dieser Realität nachhinkt“, betont Projektleiterin Birgit Sauer.

Kinder denken: ‚Wenn ich in der NMS bleibe, werde ich auch nur Lastwagenfahrer*in‘

In Interviews mit Kindern, so Projektmitarbeiterin Stella Wolter, werde sehr deutlich, wie bewusst auch den Kindern ihre schlechten Aufstiegschancen sind: „Wenn ich in der NMS bleibe, werde ich auch nur Lastwagenfahrer“, erzählte ein Kind in einem der Interviews. Denn die frühe Trennung von Kindern im Alter von 9 oder 10 Jahren ist besonders für Kinder mit Migrationshintergrund folgenschwer – von einer NMS in eine höhere Schule zu wechseln, um danach zu studieren, gelingt selten. Kinder, die mit 8 oder 9 Jahren nach Österreich migrieren, werden es kaum schaffen, ein Jahr später ein Gymnasium zu besuchen. Stattdessen werden sie häufig in Deutschförderklassen, getrennt von den anderen Kindern, unterrichtet, was sich als nicht förderlich für eine nachhaltige Integration erwiesen hat: „Österreich ist ein Schlusslicht in der Bildungsgerechtigkeit, auch im europäischen Vergleich, und es gibt wenige good practice Beispiele und auch wenig Handlungsspielraum für alle Teilnehmer*innen unseres Bildungssystems“, erklärt Birgit Sauer.

Das betrifft auch Lehrer*innen und Schulleiter*innen, die im zweiten Forschungsschritt interviewt wurden. Der Fokus unserer Schulen liegt auf Wissensvermittlung, verpackt in – nachweislich nicht sinnvolle – 50-Minuten-Einheiten, nicht aber auf einer Förderung der agency (Handlungsfähigkeit): „Kinder lernen in unserem Schulsystem etwa nicht, dass sie Handlungsfähigkeit besitzen, und dass ihre Mehrsprachigkeit eine wertvolle Ressource in unserer Gesellschaft ist“, kritisiert Birgit Sauer.

Kindzentrierte Wissenschaft für eine kindzentrierte Politik

In einem weiteren Forschungsschritt wurde an sechs Schulen mit Kindern und Jugendlichen in Interviews und Fokusgruppen sowie mittels Feldforschung gearbeitet. Wichtigstes Element dabei: die Methodik, denn die Forscher*innen verfolgten einen kindzentrierten Ansatz – nicht über die Kinder, sondern mit den Kindern sollte geforscht und gesprochen werden. MiCREATE möchte einen Beitrag dazu leisten, Integration so zu gestalten, dass Kinder mit Migrationsgeschichte ein gutes Leben leben können, und sie sich als die handlungsfähigen Akteur*innen wahrnehmen, die sie sind und sein könnten.

Bei der kindzentrierten Forschungsmethodik von MiCREATE ging es u.a. darum, auch jenen Kindern, die noch nicht so gut Deutsch sprechen konnten, die Möglichkeit zu geben, sich mitzuteilen und ihre Emotionen auszudrücken. Dafür wurde im Projekt MiCREATE ein art based approach verfolgt. Zum Beispiel wurden die Kinder in einer Grundversorgungseinrichtung gebeten, ihre Familie in Tieren zu zeichnen. „Dabei stellten einige Kinder die im Herkunftsland zurückgelassenen Familienmitglieder als eine andere Tierfamilie dar als die, mit der sie in Österreich leben, oder sogar als weinende Tiere, die weit weg von den Familienmitgliedern gemalt wurden, mit denen sie in Österreich leben“, berichtet Projektmitarbeiterin Stella Wolter.

Mit Hilfe der Übung „Identitätsmolekül“, bei dem die Kinder ihren Namen in einen mittleren Kreis und dann in die umliegenden Kreise die Namen der verschiedenen Gruppen, denen sie sich zugehörig fühlen, zeichneten, wurde die Bedeutung der Sprache und insbesondere der Muttersprache für die Kinder deutlich. Viele der Kinder, die länger als fünf Jahre in Österreich leben oder auch aus der Gruppe der in Österreich geborenen, sprechen gut Deutsch, allerdings nicht als ihre Erstsprache. Ein erst kürzlich nach Österreich gekommenes Kind betonte wiederum, wie wichtig es ist, Deutsch zu sprechen. An seinem ersten Schultag konnte der Bub noch kein Deutsch und das war „nicht gut“. Mit Hilfe der Übung wurde die Angst einiger Kinder, nicht ausreichend Deutsch sprechen zu können, sehr deutlich.

Die Kinder wurden schließlich gebeten, sich nicht nur inhaltlich zum Thema, sondern auch zu den Forschungsmethoden selbst zu äußern und Feedback zu geben. „Uns war es wichtig, die Kinder ernst zu nehmen, sie am gesamten Forschungsprozess aktiv zu beteiligen und sie stets um ihre Meinung zu fragen“, erläutert Stella Wolter.

Wichtiger als der Migrationshintergrund ist die Frage, ob das Kind einen Schreibtisch und ein Zimmer zuhause hat.

Der kindzentrierte Fokus zeigt auch, wie wichtig es ist, Kinder nicht zu ethnisieren, sondern auf andere soziale Merkmale zu achten. Nicht der türkische Migrationshintergrund ist das Problem, sondern andere, soziale Faktoren, erläutert Birgit Sauer: „Es ist weniger wichtig, ob ein Kind türkisch oder afghanisch oder österreichisch ist – viel wichtiger für den schulischen Erfolg ist eher die Frage, ob das Kind einen Schreibtisch und ein Zimmer zuhause hat, um lernen zu können.“

Mit Feldforschung Veränderungen anstoßen

Das geschenkte Vertrauen war für die Forscher*innen ungemein wichtig – vor allem, um von den Kindern nicht als bewertende oder disziplinierende Autorität wahrgenommen zu werden. „In einer Klasse etwa konnte die Interaktion erst so richtig beginnen, nachdem ich mich zu den Kindern nach hinten ins Klassenzimmer gesetzt hatte, statt vorne – beobachtend – bei der Lehrerin zu sitzen“, erzählt Stella Wolter, der an diesem Tag in der Pause auch gleich ein Wurstsemmerl von einem Schüler angeboten wurde.  

Die Covid-Pandemie 2020 unterbrach das Projekt und stellte nicht nur die Kinder, Eltern und Lehrer*innen vor extreme Herausforderungen, sondern auch die Forscher*innen. Denn während der Lockdowns waren die Schulen geschlossen, ein Großteil der Forschung musste online stattfinden. Da die Forscher*innen das Vertrauen der Kinder schon im Vorfeld gewonnen hatten und sie kennenlernen durften, indem sie viel Zeit miteinander verbracht hatten, wurde es erst möglich, einen Großteil der weiteren Forschung online durchzuführen.

Das Format, mit Kindern ins Gespräch zu gehen, Räume für Gespräche zu schaffen und zu öffnen, leistete an sich schon einen sehr wertvollen Beitrag zum übergeordneten Ziel der Forschung, und „empowerte“ die Kinder in vielerlei Hinsicht. „Eine Fokusgruppe etwa verlief ganz anders als erwartet. Es sollte ein Raum geschaffen werden, um über Integration im Kontext Schule zu sprechen. Doch die Kinder nahmen die Diskussionsgelegenheit wahr, um über die Staatsbürgerschaft und Diskriminierungserfahrungen zu sprechen. Sie nahmen das Angebot, gehört zu werden, dankbar an und hatten ein großes Bedürfnis, sich mitzuteilen“, so Stella Wolter.

Sie appelliert an Politiker*innen, mehr Ressourcen zur Verfügung zu stellen: „Kinder brauchen Vertrauenspersonen, denen sie sich anvertrauen können – etwa mehrsprachige, neutrale Schulpsycholog*innen oder Schulsozialarbeiter*innen. Es bräuchte viel mehr Möglichkeiten und Räume, in denen Kinder sich mitteilen und mit jemandem reden können, abseits des Lehrpersonals, das meist als bewertende, disziplinierende Instanz wahrgenommen wird.“

Mit Hilfe von Workshops, einer Website und einer App (Android/Apple), mehrerer sogenannter Policy Briefs für Politiker*innen und eines Handbuchs für Lehrer*innen – den Ergebnissen des dreijährigen Forschungsprojektes – will MiCREATE zu einer nachhaltigen Integration beitragen und Kinder, Lehrer*innen, Direktion und Eltern bestmöglich im Prozess der Integration unterstützen. In einigen Schulen wird das Handbuch für Lehrer*innen, das konkrete best practice Beispiele und praxisnahe Anleitungen bietet, bereits erfolgreich eingesetzt.

Lehrer*innen oder Direktor*innen alleine können all das allerdings nicht umsetzen, es bräuchte klare Entscheidungen und Handlungen seitens Bildungs- und integrationspolitischer Institutionen. Das Team von MiCREATE hat daher versucht, die politischen Akteur*innen mittels Policy Briefs in die Verantwortung zu nehmen. „Es bräuchte mehr finanzielle und personelle Ressourcen und eine Neugestaltung des Schulalltags, um das zu realisieren. Kinder sollten als Ressource gesehen und mit einbezogen werden“, appelliert Birgit Sauer. Aus ihrer Sicht wäre eine leicht umsetzbare Idee etwa ein Buddy-System für Kinder, die neu in Österreich sind. Die neu angekommenen Kinder könnten einen „Buddy“ an die Seite gestellt bekommen, der schon länger in Österreich lebt und ihre Erstsprache spricht. „Neben Kindern, Eltern, Lehrer*innen und Direktor*innen sind vor allem politische Akteur*innen am Zug, um unser Schulsystem zu verändern – damit es gerecht und gewinnbringend für alle Kinder ist“, schließt Birgit Sauer. (ER)

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: Migrant Children and Communities in a Transforming Europe
  • Laufzeit: 01/2019 – 02/2022
  • Institut: Institut für Politikwissenschaft
  • Projektteam: Birgit Sauer (Projektleitung), Stella Wolter, Mira Liepold, Rosa Tatzber
  • Beteiligte und Partner*innen: Science and Research Centre Koper (ZRS Koper), Manchester Metropolitan University, Institute for Contemporary Social and Political Studies (Ljubljana), University of Ljubljana, University of Southern Denmark (SDU), Universitat de Barcelona, Hellenic Open University, Interkulturalni PL, French National Centre for Scientific Research (CNRS), “Hope For Children” CRC Policy Center, CESIE, Faculty of Design, Ljubljana
  • Finanzierung: Europäische Union – Horizon 2020

 Video zu MiCREATE in Österreich

Im Video erläutern die Forscherinnen ihre Erfahrungen im Zuge von MiCREATE, die Forschung an Schulen und zentral Erkenntnisse und damit verbundene Forderungen an Politik und Gesellschaft.

 

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