Orange Papiermenschen in vielen Reihen nebeneinander

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Impfdebatte mit vielen Stimmen

Überblick

  • Anfang 2019 hat die Weltgesundheitsbehörde WHO Impfskepsis zu einer der zehn größten Bedrohungen für die globale Gesundheit erklärt.
  • Die österreichische Impfpolitik ist fragmentiert – trotz bundesweitem kostenfreien Impfkonzept.
  • Die Forderung nach einem nationalen Impfregister wird angesichts der sinkenden Impfraten in Österreich lauter: Impflücken könnten gezielter angegangen werden, im Falle von Epidemien sei schnelleres Handeln möglich und die Forschung zu bestehenden Impfungen würde erleichtert werden.

„Impfen ist nicht nur ein medizinisches, sondern ein politisches Thema“: Politikwissenschafterin Katharina T. Paul vergleicht in ihrem aktuellen Elise-Richter-Projekt Impfregister in Österreich und den Niederlanden, um Wissensproduktion und Steuerung in der Impfpolitik zu verstehen.

Erweiterte Impfangebote, Impfregister oder gleich Impfpflicht – aktuell wird Impfpolitik hitzig diskutiert. Als Politikwissenschafterin Katharina T. Paul sich dem Thema 2013 mit einer Forschung über die damals noch neue Impfung gegen Humane Papillomaviren (HPV) widmete, war das anders: „Um herauszufinden, wie die HPV-Impfung langfristig wirkt, sprach ein kleiner Kreis von ExpertInnen über die Notwendigkeit verbesserter Impfregister. Heute scheint die Forderung danach die breite Masse zu beschäftigen“, so Paul. Und dass, obwohl es sich um keine neue Technologie handelt: „Datenerfassungen gibt es schon, so lange es Impfungen gibt.“

Impfregister sind auch politische Steuerungsinstrumente

Impfregister sind Datenbanken, in denen Impflinge und Geimpfte erfasst und mit denen impfpolitische Entscheidungen evaluiert werden können. Anhand dieser Register lässt sich bewerten, wie Impfungen wirken und ob gewisse Regionen ausreichend vor Krankheiten geschützt sind. Ein Beispiel: Eine Epidemie grassiert in einem Gebiet, das niedrige Durchimpfungsraten aufweist. In diesem Szenario können aus den gespeicherten Daten gesundheitspolitische Handlungsanweisungen abgeleitet werden. Es kann aber auch erforscht werden, welche Beweggründe und systemische Barrieren zu sogenannten Impflücken führen. Ein solches Register wird etwa in den Niederlanden, in Norwegen und Dänemark eingesetzt.

Die verschiedenen Systeme erlauben unterschiedliche Formen von Politik und sind auf unterschiedlichen Politikvorstellungen begründet

In Österreich werden – je nach Bundesland – unterschiedliche Systeme zur Erfassung von Impfungen verwendet. Bis dato werden in Österreich zur jeweiligen Impfung nur Wohnort, Alter und Geschlecht erhoben. „Die behandelnde Ärztin oder der Arzt sendet die Daten an eine Behörde, von dort aus gelangen sie auf Bundesebene. Hiermit wird die nationale Durchimpfungsrate ermittelt und schließlich auch international zur Verfügung gestellt“, so Paul, die in in ihrem aktuellen Elise-Richter-Projekt (FWF) Impfregister in Österreich und den Niederlanden miteinander vergleicht. In ihrer wohlfahrtsstaatlichen und sozialpartnerschaftlichen Orientierung bieten diese Länder interessante Ähnlichkeiten und auch Kontraste. Die öffentliche Finanzierung des Impfsystems ist in beiden Fällen gegeben, doch die Rolle von involvierten Berufsgruppen sowie die Organisation des staatlichen Impfwesens variiert stark. Dies lässt sich gut an der Rolle von Gesundheitsdaten beobachten, denn staatliche Institutionen treten schließlich über Datenerfassung auch in Beziehung zur Gesellschaft.

In den Niederlanden werden Impfungen größtenteils in öffentlichen Impfstellen verabreicht, nicht im niedergelassenen Bereich; nach verabreichter Impfung werden die Daten in einem zentralen System digital erfasst. Die Register werden von einer Behörde verwaltet und für nationale bzw. internationale epidemiologische Forschung zur Verfügung gestellt. Zudem werden mittels Verknüpfung des Impfregisters mit dem Melderegister bestimmte Zielgruppen aktiv zur Impfung eingeladen und an diese vielleicht moralische, aber nicht rechtliche Pflicht erinnert. Hier werden also nicht nur Daten zur individuellen und öffentlichen Gesundheit gesammelt: Ihre politische Verwendung spielt auch eine andere Rolle. In Österreich sind Datenerfassung und damit auch Möglichkeiten für Steuerung und Politikevaluierung vergleichsweise eingeschränkt. Dass dies Konsequenzen für Politikgestaltung hat, steht für Katharina T. Paul außer Zweifel.

„Das sind zwei sehr unterschiedliche Infrastrukturen, deren Vergleich spannende Fragen aufwirft“, so Paul: Welche Daten können in den Systemen gesammelt werden, welche Evidenz wird darauf basierend produziert und wie wird diese Evidenz politisch wirksam?

Die Formen von Wissen, die in der Wissenschaft geschaffen werden, sind untrennbar mit der Gesellschaft verknüpft – was sie tun kann, soll, darf oder vertreten soll

Die verschiedenen Impfprogramme basieren auf normativen Vorstellungen von einer „guten“ Gesellschaft, erklärt Paul und führt zur Veranschaulichung den veralteten Begriff der „Herdenimmunität“ an: Demnach muss ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung gegen ein Virus geimpft sein, um auch jene zu schützen, die nicht geimpft werden können – das sind Neugeborene, ältere Menschen, immunsupprimierte PatientInnen, chronisch Kranke, aber auch jene, bei denen die Impfung nur bedingt oder nicht wirksam ist. In diesem Konzept ist der Gedanke der Solidarität festgeschrieben. Doch diese Solidarität hat ihre Grenzen – Impfpolitik ist eine nationale Angelegenheit und gilt im nationalen Raum. „Krankheitserreger kennen aber keine Grenzen und sind ungemein mobil“, wendet Paul ein. Daher untersucht sie gemeinsam mit Anna Pichelstorfer in einem parallel laufenden Projekt auch neue EU-weite und globale Formen der Zusammenarbeit zu Schutzimpfungen als eine Form von Gesundheitsdiplomatie (Projekt „InsSciDE“).

Die Sozialwissenschaften müssen in der Diskussion um Impfungen gehört werden

'Impfung' eingetragen in einen Kalender

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In ihrer Feldforschung zur österreichischen Fallstudie hat die Politikwissenschafterin Gespräche mit Personen aus der Praxis und politischen EntscheidungsträgerInnen geführt. Ihre Forschung teilt sie nicht nur mit der wissenschaftlichen Community, sie versucht, ihre Themen auch einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln – unter anderem mit Blogbeiträgen in derStandard.at oder als Teil des Falter-Think-Tanks, einer Kooperation zwischen der Universität Wien und der Wochenzeitung „Falter“. Darüber hinaus informiert Paul auf ihrer Website über ihre Forschungsarbeit: „Bei so einem emotionsgeladenen Thema wie dem Impfen möchte ich transparent machen, wer ich bin, wie meine Forschung gefördert wird, was ich erforsche und mit wem ich zusammenarbeite.“

Ihr langfristiges Ziel ist es, dass bei Diskussionen um Impfungen nicht mehr nur Personen im weißen Kittel als Referenz herangezogen werden: „Impfen ist ein medizinisches Thema, aber vor allem eines, das die Gesellschaft betrifft. Die sozialwissenschaftliche Stimme kann eine Brücke sein.“ Als sozialwissenschaftliches Sprachrohr war Katharina T. Paul im März 2019 beim deutschen Ethikrat zum Thema Impfpflicht geladen und konnte direkt an der Politikgestaltung mitwirken. „Die sozialwissenschaftliche Perspektive wurde gut aufgenommen – auch in der medialen Berichterstattung zur Veranstaltung“, berichtet Paul.

Die Öffentlichkeit ist aktiver, als man meint

Bisher sind die Impfregister technokratisch konzeptualisiert und linear organisiert – so viel kann Katharina T. Paul schon vor Projektabschluss sagen und sieht Veränderungspotenzial: „Denkbar wäre zum Beispiel ein Interface, das es BürgerInnen erlaubt, Daten selbstständig einzutragen, etwa über Nebenwirkungen oder Erfahrungen im Impfsystem.“ Ein solches Projekt ist bisher noch Zukunftsmusik, mit ihrer aktuellen Forschung hofft die Elise-Richter-Stipendiatin aber dazu beizutragen, dass die Strukturen demokratischer und transparenter werden: „Ziel ist es, einen Diskursraum zu schaffen, in dem Begegnungen zwischen Gesellschaft, Wissenschaft und EntscheidungsträgerInnen möglich werden. Die Öffentlichkeit ist in der Debatte um Impfungen schließlich nicht nur Adressat, sondern ein integraler Bestandteil, der gehört werden und mitgestalten möchte.“ (hm)

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: „KNOW-VACC: Knowledge production and governance in vaccination policy. A comparison of vaccination registries in Austria and the Netherlands“
  • Laufzeit: 2017–2021
  • Beteiligte und PartnerInnen: Katharina Theresa Paul
  • Institut: Institut für Politikwissenschaft
  • Finanzierung: FWF – Der Wissenschaftsfonds (Elise-Richter-Projekt)

 Links

 Wissenschaftliche Beiträge

  • Paul, K. T. & C. Haddad (2019): “Beyond evidence vs. truthiness: Towards a symmetrical approach to knowledge and ignorance in policy studies”. In: Policy Sciences 52/2, pp. 299–314. DOI: 10.1007/s11077-019-09352-4 (Open Access)
  • Paul, K.T. & K. Loer (2019): “Contemporary vaccination policy in the European Union: tensions and dilemmas”. In: Journal of Public Health Policy. DOI: 10.1057/s41271-019-00163-8 (Open Access)
  • Paul, K. T., Wallenburg, I. & Bal, R. (2018): Putting public health infrastructures to the test: introducing HPV vaccination in Austria and the Netherlands. In: Sociology of Health & Illness 40/1, pp. 67–81. DOI: 10.1111/1467-9566.12595 (Open Access)

 Video

Katharina T. Paul über die österreichische (Corona-)Impfstrategie und -politik im Rahmen des Podcast Ars Boni vom Insitut für Innovation und Digitalisierung im Recht:

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