Gut gefüllter Verhandlungssaal der Vereinten Nationen in New York, von links nach rechts verlaufen vertikal Sitzreihen mit Verhandlungstischen, vorne auf der Rednerbank spricht eine Frau, sie wird links und rechts in schwarz-weiß an die Wand projiziert.

Plenarsitzung der Intergovernmental Conference on Marine Biodiversity of Areas Beyond National Jurisdiction (BBNJ). ©: IISD ENB

Im Brackwasser des Verhandlungsprozesses

Überblick

  • Das Projekt MARIPOLDATA erforscht die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik
  • UN-Verhandler*innen werden zum Objekt ethnografisch-empirischer Beobachtungen
  • Besonderer Wert wird auf begleitendes Publizieren gelegt

Das ethnografische Beobachten New Yorker Verhandlungsprozesse der Vereinten Nationen rund um die marine Biodiversität der Hochsee ist der Ausgangspunkt des ambitionierten Forschungsprojektes MARIPOLDATA, das das Verhältnis von Wissenschaft und Politik sowie die Bedingungen analysiert, unter denen ozeanisches Wissen entsteht und genutzt wird.

BBNJ. Intergovernmental Conference on Marine Biodiversity of Areas Beyond National Jurisdiction. Die zwischenstaatliche Konferenz über marine Biodiversität in Gegenden außerhalb nationaler Gebietshoheit. Ugh. Klingt aufregend höchstens für die überschaubar große Gruppe von Freund*innen der UN-Diplomatie; für Menschen, die gern Vertragstexte lesen, die mit Dutzenden von Konditionalsätzen und Partizipialkonstruktionen beginnen.

So kann man sich täuschen.

Denn es ist höchst beeindruckend, wie Alice Vadrot, Assoziierte Professorin für Internationale Beziehungen am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien, und ihr Team von MARIPOLDATA diese Konferenzen untersuchen und als Quelle nutzen, welche Fragen sie sich stellen und auf welchen Wegen sie zu Antworten gelangen. „Wir beforschen die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik“, erläutert Alice Vadrot den Ausgangspunkt. „Wir wollen wissen, wie die Wissenschaft Politik beeinflussen kann und wie Wissenschaft in politische Prozesse aufgenommen wird.“ Als konkreter Forschungsgegenstand dient der seit 2018 bei der UNO in New York laufende Verhandlungsprozess um den Schutz der marinen Biodiversität auf Hoher See – dort also, wo keinerlei nationalstaatliche Begehrlichkeiten und Gesetze mehr Anwendung finden. „Wir nutzen diese Verhandlungsrunden, um empirisch zu analysieren, in welcher Form Wissenschaft beteiligt wird“, erklärt Vadrot. „Greifen die Verhandler*innen auf wissenschaftliche Expertise zurück? Sind Wissenschafter*innen Teil der Delegationen? Lässt die Politik sich von wissenschaftlichen Argumenten leiten? Welche Länder sind mehr, welche weniger wissenschaftsaffin und aus welchem Grund?“

Vadrot nennt ihre Forschungen im New Yorker Konferenzsaal „ethnografisch“: „Wir sitzen auf den Rängen, wo auch die NGOs sitzen, und beobachten. Wir zeichnen systematisch auf, was passiert. Wer spricht worüber? Welche Konflikte entstehen?“ Dabei wird unter anderem erkennbar, dass manche Staaten weit weniger wissenschaftlich orientiert sind als andere. Die kleinen Inselstaaten des Pazifiks oder der Karibik etwa monieren häufig indigenes, lokales Wissen als relevant und wollen Wissenschaft nicht als einzige Grundlage für politische Entscheidungen betrachten.

„Die Frage, wie die Wissenschaft sich auf dem Feld der Diplomatie verhält, ist natürlich von Bedeutung“, sagt Vadrot. „Aber was mich eigentlich interessiert, ist: In welchem Verhältnis steht das, was in New York geschieht, zum gesamten Feld der marinen Biodiversitätsforschung? Wie verorten sich die Wissenschafter*innen dort, welches Wissen ist im Verhandlungssaal unterrepräsentiert, und inwieweit beeinflusst das, was am Verhandlungstisch geschieht, die Wissenschaftspraxis?“

Wir wissen wenig über die Hoch- und Tiefsee, und selbst dieses Wissen ist ungleich verteilt und erreicht die EntscheidungsträgerInnen nicht

Um die Brisanz dieser Fragen zu verstehen, ist es nötig, ein wenig über die Spezifika der marinen Biodiversitätsforschung Bescheid zu wissen. „Das Wissen über die marine Biodiversität ist politisch und ambivalent“, erklärt Alice Vadrot. „Kurz gesagt, haben wir drei Probleme, die miteinander verschränkt sind. Erstens herrscht eklatanter Datenmangel. Wir wissen wenig über die marine Biodiversität in der Hoch- und Tiefsee, und selbst dieses Wissen ist ungleich verteilt und erreicht die Entscheidungsträger*innen oftmals nicht. Zweitens ist die Produktion dieses Wissens unglaublich teuer: Man benötigt aufwendige Forschungsinfrastrukturen und Instrumente, die sich rasant entwickeln, zum Beispiel Roboter oder ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge, die am Meeresboden spazieren fahren können, riesige Forschungsschiffe, eine Unmenge von modernstem elektronischem Equipment. Und weil das alles so teuer ist, ist diese Forschung begrenzt und wird nur von wenigen Staaten finanziert oder von der Industrie zu kommerziellen Zwecken betrieben. Man könnte sagen, dass eigentlich nur eine Handvoll Akteure wirklich Ozeanforschung betreibt. Drittens herrscht gleichzeitig ein extrem großes ökonomisches Interesse an dem entstandenen Wissen über marine Biodiversität: Da geht es um genetische Ressourcen, um die Pharma- und Kosmetikindustrie, um die Life Sciences.“ Beispielsweise liefern Tiefseeschwämme wichtiges Rohmaterial für antivirale Medikamente, und diverse Anti-Aging-Gesichtcremes beinhalten Stoffe, die aus Korallen gewonnen werden. Alle wittern lukrative Geschäfte. Doch eigentlich ist die Hohe See Allgemeingut. Was also tun?

Wir wollen die strukturellen Mechanismen verstehen, die dazu führen, dass bestimmtes Wissen sichtbarer ist als anderes

Das Team von MARIPOLDATA hat sich entschlossen, das Forschungsfeld zu kartografieren, um Konjunkturen, Interessenlagen, Strukturen sichtbar zu machen. Dazu führen die Wissenschafter*innen bibliometrische Untersuchungen durch. „Wir kartieren also die Forschung zur marinen Biodiversität“, erläutert Vadrot. „Dadurch können wir abbilden, wie sich das Feld in den letzten 30 Jahren entwickelt hat.“ Die Forscher*innen haben sich aber auch die Mühe gemacht, die weltweiten Publikationen zur marinen Biodiversität mit deren Zitationshäufigkeit in Zusammenhang zu bringen, woraus sich nicht nur Schlüsse auf hegemoniale Forschungsstränge ziehen lassen, sondern auch strukturelle Benachteiligungen bestimmter Regionen – etwa Brasiliens oder Indiens – in Bezug auf die Rezeption der Meeresforschung offenbar werden. „Wir wollen“, verdeutlicht Vadrot, „die strukturellen Mechanismen verstehen, die dazu führen, dass bestimmtes Wissen sichtbarer ist als anderes.“ Doch weil die bibliometrische Arbeit den Blick auf subjektive Perspektiven verstellt, führen die Forscher*innen ergänzend ausführliche Oral-history-Interviews mit eminenten Figuren aus dem Bereich der marinen Biodiversität. „Wir fahnden nach Personen, die viel publiziert haben, gut vernetzt sind, involviert sind in wissenschaftliche Politikberatung und Verhandlungen, kurz: die ein Naheverhältnis zur politischen Entscheidungsfindung haben.“ Unter den Gesprächspartner*innen finden sich etwa eine deutsche Meeresbiologin, die Grundlagenforschung in der Antarktis durchgeführt hat, ein Australier, der die gesamten Gewässer des Kontinents kartiert hat, oder ein britischer Wissenschafter, der eng mit dem Ölkonzernen BP zusammenarbeitet und sich in die Entwicklung verbindlicher Regeln für den Tiefseebergbau einbringt.

In einem dritten Forschungsschritt wird das Team von MARIPOLDATA ab 2022 ausgewählte Forschungspraktiken im Feld untersuchen, und zwar in Brasilien, den USA und der EU. Dabei soll unter anderem beleuchtet werden, wie sich rechtliche Veränderungen betreffend die Hochsee in der Forschung niederschlagen, wie Kooperationen und Netzwerke mit anderen (wissenschaftlichen, institutionellen oder ökonomischen) AkteurInnen funktionieren und unter welchen ideologischen Bedingungen diese Forschungen stattfinden.

Man lernt einander im Verhandlungsraum fast zwangsläufig kennen, daher bleibt die Involvierung nicht aus

Doch zurück nach New York. Hier lässt sich geradezu idealtypisch nachzeichnen, wie der Forschungsprozess gesellschaftliche Verhältnisse beeinflusst. „Ich würde nicht sagen, dass wir uns in den Verhandlungsprozess einmischen“, findet Alice Vadrot, „aber wir bemühen uns schon, unsere wissenschaftliche Arbeit an die Akteur*innen heranzutragen. Das ist umso leichter, als der Verhandlungssaal in New York recht klein ist. Da lernt man einander fast zwangsläufig kennen, und die Involvierung bleibt nicht aus.“

Wie Vadrot und ihr Team dank ihrer ethnografischen Beobachtungen nachweisen können, werden insbesondere die Vertreter*innen des globalen Südens, die in Forschungsangelegenheiten ohnehin strukturell benachteiligt sind, zu Zielobjekten von NGO-nahen Wissenschafter*innen. Über diesen Weg versuchen diese Akteur*innen, progressive Begriffe und Passagen in den Vertragstexten zu verankern. „Da gehen die Leute durchaus strategisch vor“, analysiert Vadrot. Häufig geht es um einzelne Textpassagen oder Begriffe, die zu Aushandlungsobjekten werden. In den letzten Verhandlungsrunden wurde zum Beispiel der Begriff der „ökologischen Konnektivität“ in den Verhandlungstext eingebracht, und das Prinzip  „Gemeinsames Erbe der Menschheit“ stand plötzlich im Zentrum der Auseinandersetzung. „Sie können sich nicht vorstellen, wie emotional es da zuging“, erinnert sich Vadrot. „Das ‚Gemeinsame Erbe der Menschheit‘ wurde von den Vertreter*innen des globalen Südens eingebracht, wanderte in den Vertragsentwurf, flog dann wieder raus und musste nach wütenden Protesten wieder eingefügt werden.“ Auch diese Prozesse kann Vadrot dank des ethnografisch-empirischen Zugangs ausgezeichnet dokumentieren und analysieren. Doch da die Covid-19-Pandemie den Verhandlungsprozess unterbrochen hat, musste auch die Bearbeitung dieses Forschungskapitels pausieren.

Das Team legt großen Wert darauf, im Rahmen des Projekts MARIPOLDATA verhandlungsbegleitend zu publizieren. So hat es seine systematischen Analysen der Verhandlungen bereits auf EU-Ebene, in der Gruppe „Seerecht“ des Rats der EU, präsentiert, was auf großes Interesse stieß. Man arbeitet im Rahmen von Workshops mit dem österreichischen Außenministerium zusammen, vor allem aber organisiert das Forschungsprojekt eine Seminarreihe, „bei der Personen auftreten, die bei Verhandlungen Rollen einnehmen oder die Verhandlungen beforschen“, erklärt Vadrot. „Das kommt wirklich sehr gut an; wir haben Teilnehmer*innen aus der ganzen Welt – aber leider kaum aus Österreich. Das liegt aber wohl an der Ferne des Themas.“ Doch auf beispielhafte Weise schafft Wissenschaft im Rahmen dieses Projekts Räume, um Dialog zu ermöglichen und Entscheidungsprozesse zu beeinflussen. (tg)

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: MARIPOLDATA – The Politics of Marine Biodiversity Data
  • Laufzeit: 11/2018 – 10/2023
  • Institut: Institut für Politikwissenschaft
  • Projektteam: Alice Vadrot (Leitung), Arne Langlet, Ina Tessnow-von Wysocki, Petro Tolochko, Emmanuelle Brogat, Silvia C. Ruiz-Rodríguez, Phoebe Fuhrmann
  • Visiting Research Fellow: Paul Dunshirn
  • Finanzierung: ERC Starting Grant

 Publikationen

  • Tolochko, P., & Vadrot, A. B. M. (2021). Selective world-building: Collaboration and regional specificities in the marine biodiversity field. Environmental Science & Policy, 126, 79–89. https://doi.org/10.1016/j.envsci.2021.09.003.
  • Vadrot, A. B. M., Langlet, A., & Tessnow-von Wysocki, I. (2021). Who owns marine biodiversity? Contesting the world order through the ‘common heritage of humankind’ principle. Environmental Politics, 0(0), 1–25. https://doi.org/10.1080/09644016.2021.1911442.
  • Vadrot, A. B. M., Langlet, A., Tessnow-von Wysocki, I., Tolochko, P., Brogat, E., & Ruiz-Rodríguez, S. C. (2021). Marine Biodiversity Negotiations During COVID-19: A New Role for Digital Diplomacy? Global Environmental Politics, 21(3), 169–186. https://doi.org/10.1162/glep_a_00605.
  • Tolochko, P., & Vadrot, A. B. M. (2021). The usual suspects? Distribution of collaboration capital in marine biodiversity research. Marine Policy, 124, 104318. https://doi.org/10.1016/j.marpol.2020.104318.
  • Tessnow-von Wysocki, I., & Vadrot, A. B. M. (2020). The Voice of Science on Marine Biodiversity Negotiations: A Systematic Literature Review. Frontiers in Marine Science, 7, 1044. https://doi.org/10.3389/fmars.2020.614282.
  • Vadrot, A. (2020). Ocean Protection. In Essential Concepts of Global Environmental Governance, edited by Jean-Frédéric Morin and Amandine Orsini, 173–175. Abingdon: Routledge. Second edition.
  • Vadrot, A. B. M. (2020). Multilateralism as a ‘site’ of struggle over environmental knowledge: The North-South divide. Critical Policy Studies, 14(2), 233–245. https://doi.org/10.1080/19460171.2020.1768131.

 Video

"The best of all worlds": Ein Video Portrait über Alice Vadrot vom FWF - Der Wissenschaftsfonds, 14.9.2020.

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