Genderbasierte Gewalt an Migrantinnen

Überblick

  • Ein Forschungsprojekt an der Universität Wien untersucht die Ursachen von genderbasierter Gewalt an Migrantinnen und geflüchteten Frauen.
  • In Österreich wird genderbasierte Gewalt an Migrantinnen politisch instrumentalisiert.
  • Im Vordergrund stehen die Ethnisierung und Kulturalisierung von Gewalt.

Genderbasierte Gewalt an Migrantinnen wird in Österreich politisch überwiegend aus der Perspektive von Kultur und Religion diskutiert. Doch die Ursachen für diese Form von Gewalt sind weit vielfältiger, wie ein Team von Politikwissenschafterinnen der Universität Wien aufzeigt.

Die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 bildete den Ausgangspunkt für die nunmehrigen Forschungsaktivitäten, schildert Sieglinde Rosenberger, Politikwissenschafterin an der Universität Wien und Leiterin des österreichischen Teams, das im Rahmen der europäischen GENDER.NET-plus-Wissenschaftskooperation seit 2019 Gewalt gegen Migrantinnen und geflüchtete Frauen erforscht.

Migrantinnen, insbesondere „geflüchtete Frauen sehen sich oft auf unterschiedliche Art und Weise mit genderbasierter Gewalt konfrontiert“, hält Projektmitarbeiterin Madita Standke-Erdmann fest – genderbasierte Gewalt wird im Projekt definiert als „Gewalt, die sich gegen eine Person richtet aufgrund von deren Gender oder sexueller Orientierung.“

Genderbasierte Gewalterfahrungen in verschiedenen Lokalitäten

Geflüchtete Frauen erfahren Gewalt an verschiedensten Orten und in prekären sozialen Zusammenhängen. So ist davon auszugehen, dass sie in ihrem Herkunftsland mit genderbasierter Gewalt konfrontiert waren, zumeist im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen. Diese Erlebnisse können zu Fluchtentscheidungen führen und später im Aufnahmeland der Grund für die Beantragung, seltener für die Gewährung von Asyl sein. „Doch auch auf der Flucht erfahren Frauen nicht selten Gewalt, aus dem unmittelbaren Umfeld, in der sozialen Fluchtgruppe, oder von Schleusern“, erzählt Standke-Erdmann. Und schließlich erleben Geflüchtete häufig Gewalt durch staatliche Behörden und in semi-staatlichen Einrichtungen, etwa an den Grenzen oder in Aufnahmecamps. „NGOs und internationale Studien sprechen davon, dass diese oft prekären Formen des Aufenthalts Hotspots für Gewalt darstellen“, erläutert Rosenberger. Schließlich erfahren Frauen genderbasierte Gewalt dort vom nächsten Umfeld, wo sie lange Zeit auf Asyl zu warten haben und in dieser Zeit in aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit und sozialer Prekarität leben.

Im Rahmen einer Wissenschaftskooperation widmen sich insgesamt acht unterschiedliche Projekte in Europa, Kanada und Israel dem Fragenkomplex zu genderbasierter Gewalt bei Migrantinnen bzw. Geflüchteten. „Wir haben einen sog. Country Report zur rechtlichen und policy-Situation verfasst“, fasst Rosenberger die Herangehensweise des österreichischen Teams zusammen. „Wir wollten eingangs aber auch die empirische Lage kennenlernen und mussten aber feststellen, dass es kaum statistisches Wissen darüber gibt, keinerlei Prävalenzstudien dazu vorliegen.“ Was es gibt, sind Informationen von Beratungs- und Betreuungseinrichtungen bei Gewalt an Frauen; diese Informationen zeigen, dass der Anteil an Migrantinnen und Geflüchteten an den Frauen, die Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen aufsuchen, hoch ist.

Gewalt wird in Österreich für restriktive Migrationspolitik genutzt

„Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Gewalt an Migrantinnen in Österreich politisch interpretiert und instrumentalisiert wird“, erklärt Standke-Erdmann. Das Thema erlebt in der politischen Debatte eine Engführung: „So gelingt die Darstellung, Migrantinnen seien von genderbasierter Gewalt betroffen, weil ‚fremde‘ Männer gewaltaffiner wären und Ursachen von Gewalt beim Patriarchat der „Anderen“ verortet werden. Sozio-strukturelle Überlegungen finden dabei kaum Erwähnung, so Rosenberger. „Und mit diesem Phänomen der einseitigen Diskussion und Wissensproduktion beschäftigen wir uns als Politikwissenschafterinnen in diesem Projekt intensiv.“

Tendenziell wird im politisch-administrativen Feld die Gewaltdebatte an Frauen heute anders geführt als in den 1970er und 1980er Jahren. Wurde sie damals von der Frauenbewegung politisiert und von den konservativ regierten staatlichen Stellen versucht zu ignorieren, so wird gegenwärtig das Thema auf einen gesellschaftlichen Ausschnitt reduziert, nämlich auf die migrantischen Täter. „In der politischen Debatte wird Gewalt an Migrantinnen fast nur als kulturelle, religiöse, traditionsbedingt betrachtet“, beobachtet Rosenberger. „Und die politischen Antworten konzentrieren sich auf Genitalverstümmelungen und Zwangsheiraten. Es existiere, meint die Politikwissenschafterin, kaum ein öffentlicher Diskurs über Gewalt und Migration, in dem auch Unsicherheit des Aufenthalts und soziale Prekarität angesprochen werden.

Das Projekt wählte drei methodische Zugänge zur Generierung von Informationen. Die Projektmitarbeiterinnen führten a) Interviews mit Mitarbeiterinnen von NGOs und Beratungseinrichtungen sowie mit politischen Akteurinnen durch, b) sie analysierten  öffentliche Dokumente, die von politisch-administrativen Akteur*innen erzeugt werden, um das Problem zu definieren und Antworten zu formulieren,  und c) sie untersuchten mit inhaltsanalytischen Methoden die Berichterstattung in den beiden österreichischen Tageszeitungen Der Standard und Kronen Zeitung über genderbasierte Gewalt gegen Migrantinnen und geflüchtete Frauen. „Wir wollten ursprünglich auch mit betroffenen Frauen selbst sprechen“, erläutert Rosenberger. „Aber erstens kam uns Corona dazwischen, so dass uns der Zugang in die Asylheime verwehrt blieb. Und zweitens haben wir uns aus forschungsethischen Gründen dagegen entschieden, weil nicht absehbar war, was ein Interview über Gewalt bei den Betroffenen auslösen würde.“

In Österreich gehen Gewaltschutz- und Migrationspolitik Hand in Hand; das tut beiden Politikbereichen nicht gut

„Unser analytischer Zugang folgte dem Ansatz der silences and noises“, erklärt Rosenberger. „Wir interessieren uns dafür: Wenn staatliche oder semi-staatliche Stellen aber auch Massenmedien über genderbasierter Gewalt diskutieren, worüber wird gesprochen, welcher Wirbel wird gemacht, wo sind also die noises? Gleich wichtig aber schien es uns, über die silences nachzudenken, darüber also, wovon nicht gesprochen wird, was also auch keine politischen Antworten erfahren kann.“

Es ist auffallend, wie viele Fragen im Zusammenhang mit genderbasierter Gewalt unbeantwortet bleiben. So gibt es etwa kaum eine systematische Analyse „der Orte, an denen Gewalt stattfindet“, sagt Standke-Erdmann. „Wie sehr spielen soziale Faktoren eine Rolle? Wie steht es um den Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt? Wie lange dauert die Prekarität, in der Migrantinnen leben? Wie sehr begünstigen Aufenthaltstitel, die vom Familienstand abhängen, Gewalt?“ „Es ist“, erläutert Rosenberger, „das Phänomen des Gender-Nationalismus virulent, das in etwa besagt: Im Prinzip sind ‚unsere‘ Geschlechterverhältnisse modern, aber Migrant*innen bringen ihre traditionellen Wertvorstellungen mit und widersprechen so der Gleichbehandlung.“ Dieses nationalistische Deutungsmuster ist in Frankreich und in Großbritannien (Stichwort: Britishness) zu beobachten, es ist aber mindestens so sehr in Österreich zu finden. „In Österreich werden von politischer Seite patriarchale Geschlechterverhältnisse der ‚Anderen‘ kritisiert und in einer restriktiven migrationspolitischen Logik verankert“, analysiert Rosenberger. „Diese Melange ist weder für eine nachhaltige Frauen- noch Gewaltschutzpolitik günstig“, so Standke-Ermann. Es könnte sogar der Fall eintreten, dass man sich durch diese Vermischung zweier sozialpolitischer Bereiche und durch die Verzahnung von Förderschienen auf diesen Ebenen die feministische, frauenpolitische Legitimation für die Ethnisierung von genderbasierter Gewalt holt, warnt Rosenberger.

Das Forschungsprojekt sieht sich nicht nur als Unterfangen zur Generierung von akademischen Wissen, es will auch den Austausch mit Politiker*innen und Stakeholdern im Feld herstellen und pflegen. „Genderbasierte, sexualisierte Gewalt ist schambehaftet“, erläutert Rosenberger. „Wir brauchen daher andere Formen von Hearings in Asylverfahren, keine männlichen Fragesteller, mehr Dolmetscherinnen und Richterinnen.“ Da das Projekt sich auch als praxisnah versteht, wollen die Mitarbeiterinnen ihr Wissen in Guidelines in diesem Bereich umsetzen. „Und wir wollen betonen“, sagt Rosenberger, „dass genderbasierte Gewalt gegen Migrantinnen und geflüchtete Frauen vielfältige Ursachen hat und dass die Politik es sich zu leicht machen würde, wollte sie die Verantwortung dafür auf den ethnischen, kulturellen oder religiösen Hintergrund der Täter schieben.“ (tg)

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: Violence against women migrants and refugees
  • Laufzeit: 03/2019 – 05/2022
  • Institut: Institut für Politikwissenschaft
  • Projektteam: Sieglinde Rosenberger, Madita Standke-Erdmann, Leila Hadj-Abdou
  • Beteiligte und Partner*innen: CRESPPA Université Paris 8 France (PI), National University of Ireland Galway, St. Mary’s University Halifax, Oriental Insitute at Czech Academy of Sciences, Norwegian Centre for Violence and Traumatic Stress Studies Oslo, Bar-Ilan University Tel Aviv
  • Finanzierung: FWF – Der Wissenschaftsfonds (GENDER-NET Plus Joint Call in Gender and UN Sustainable Development Goals).

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