Das ANED Logo (Helblauer Kreis mit weißer Schrift auf gelben Grund) und der Titel des Meetings sind auf eine Leinwand projiziert, davor ist ein leeres Podium mit vier Stühlen und Mikrofonen zu sehen.

© Ursula Naue

Kein Forschen über, sondern ein Forschen mit

Überblick

  • Im Rahmen des Forschungsnetzwerks ANED erforscht Politikwissenschafterin Ursula Naue die Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen im erweiterten EU-Raum.
  • In Kooperation mit 35 Ländern widmet sich das Netzwerk jedes Jahr Fragestellungen zu vier Themenbereichen, die mittels Policy-Dokumentenanalyse und statistischem Datenmaterial beantwortet werden.
  • In Österreich werden vor allem prekäre Situationen aufgrund unzureichender Unterstützungsleistungen deutlich: Nur die wenigsten erhalten zum Beispiel eine Assistenz im Alltag (Freizeit wie auch Arbeit betreffend), obwohl viele Menschen ohne diese wichtige Unterstützung weder einer Tätigkeit nachgehen noch selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Auch heutzutage haben es Menschen mit Behinderungen in Europa alles andere als leicht. Sie werden strukturell benachteiligt, sind stärker von Armut bedroht und bei Etatkürzungen sind sie oft die ersten Leidtragenden. Bei diesem Status quo wird es niemanden überraschen, dass auch den Forscherinnen und Forschern, die sich dieser Thematik annehmen, oft institutionelle Steine im Weg liegen. Ursula Naue vom Akademischen Netzwerk Europäischer BehinderungsforscherInnen (ANED) kann ein Lied davon singen.

Wenn Ursula Naue von ihrer Forschung berichtet, erhellen sich ihre Gesichtszüge. Der Politikwissenschafterin liegt etwas an dem Thema, das sie schon seit mehr als zehn Jahren begleitet: Initiiert von der University of Leeds forscht sie in einem Netzwerk von 35 Ländern zur Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen. „Wichtig ist: Disability Studies ist kein Forschen über, sondern ein Forschen mit. Die Forschenden in unserem Team sind in erster Linie Menschen mit Behinderungen selber. Das Ziel ist, dass letztlich vor allem Menschen mit Behinderungen ihre eigenen Lebenssituationen erforschen und die Forschungsagenda setzen“, erklärt Naue. „Wir haben daher die besondere Situation, dass Forschung und Feld besonders eng verwoben sind – so etwas ist wirklich selten. Die Wechselseitigkeit zwischen der Wissenschaft und involvierten gesellschaftlichen AkteurInnen ist durch die personelle Situation sozusagen schon design-immanent.“

Naue und ihre Forschungskolleg*innen nähern sich hier einer großen Forschungslücke, denn das Thema Behinderung wird in EU-weiter Forschung wie auch Politikgestaltung oft ausgeklammert. „Ähnlich, wie es auch oft mit Gender-Themen der Fall ist, wird es meist isoliert betrachtet und dann schnell abgehakt. Und in anderen relevanten Bereichen – wie etwa Arbeit – kommen Menschen mit Behinderungen gar nicht vor. Dabei spielt Arbeit im Kontext Behinderung eine sehr große Rolle.“

Ungewöhnliche Datenlagen erfordern ungewöhnliche Zugänge.

Das Projekt, das Jahr für Jahr neu von der Disability Unit der Europäischen Kommission finanziert und verlängert wird, befasst sich jährlich mit vier Themenblöcken, welche in allen Mitgliedsländern bearbeitet und erforscht werden. Die dazugehörigen Fragen werden von der University of Leeds und der Disability Unit ausgearbeitet und legen so den Grundstein für den europäischen Vergleich. „Es ist für uns Forscher*innen gar nicht so einfach, den Fragen auf den Grund zu gehen, denn jedes Land hat eine unterschiedliche Datenlage“, so Naue. „Und wäre das nicht schon Herausforderung genug, ist es von der Disability Unit so vorgegeben, dass wir keine Interviews durchführen dürfen. Hier müssen wir also kreativ werden.“

… um die Vorgaben herumgehangelt.

Der Grund für diesen Methodenausschluss ist laut der Wissenschafterin politischer Natur: „Um international vergleichbar zu bleiben, müssen wir in allen Ländern ähnliche Analysen durchführen. Nun ist es jedoch so, dass sich in einigen Ländern leiser Widerstand regt, der manchmal gar nicht so leise ist. Das ist eine klassische politikwissenschaftliche Erkenntnis: Wo es keine Daten gibt, gibt es keine Notwendigkeit zum Handeln. Gleichzeitig hat man sich jedoch EU-weit verpflichtet, das Thema zu untersuchen, daher sieht sich ANED mit einem Kompromiss konfrontiert“, so Naue. „Ohne die Europäische Kommission könnten wir nicht in so einem großen Rahmen forschen – so müssen wir uns eben um die Vorgaben herumhangeln.“

Wir zäumen das Pferd einfach von hinten auf.

Der kleinste gemeinsame Nenner lautet Policy-Dokumentenanalyse, also eine Literaturanalyse gesetzgebender Dokumente im nationalen Kontext, häufig mit Unterfütterung durch statistisches Datenmaterial – sofern/falls vorhanden. „Dennoch: Wenn wir über Interviews und anderen Input aus der Community verfügen, ignorieren wir diese natürlich nicht, sondern wir zäumen das Pferd ganz einfach von hinten auf“, schmunzelt Naue. „Das bedeutet, wir rezipieren die Befunde der Interviews und versuchen, diese nun auch mit statistischen Daten zu unterfüttern. Wir nutzen sie also nur inoffiziell – so bleiben wir innerhalb der Richtlinien, stellen aber gleichzeitig einen engeren Realitätsbezug her.“

Wir müssen dranbleiben.

Ein wenig paradox gestaltet sich auch der Forschungszeitraum. Denn auch wenn ANED mit einer ununterbrochenen Zeitspanne von mittlerweile zehn Jahren eine rekordverdächtige Kontinuität aufweist, so verlängert sich der Zeitraum um nie mehr als ein Jahr – ein Forschen in ständiger Ungewissheit. „Wir wissen nie, ob das Projekt verlängert wird, sind aber natürlich dankbar, dass es bis jetzt immer funktioniert hat“, resümiert Naue. „Die Thematik ist so wichtig, gleichzeitig ist die Datenlage oft prekär, daher müssen wir einfach dranbleiben.“

Nur weil es bei uns besser läuft, läuft es noch lange nicht gut.

Titelseite des Country report on the European Semester - Austria

European Semester 2016/2017 country fiche on disability - Austria © European Semester

So unterschiedlich die Datenlagen in den einzelnen Ländern, so unterschiedlich gestalten sich auch die Forschungsteams. Während Ursula Naue als Politikwissenschafterin universitär eingebettet ist, sind in anderen Ländern auch schon mal VerwaltungsmitarbeiterInnen für die Analyse verantwortlich. „Da ist der Zugang natürlich ein anderer – dennoch ist ein Vergleichswert besser als keiner“, unterstreicht sie. „Jedoch ist es auch unsere Aufgabe, den internationalen Vergleich per se in einen methodologischen Kontext zu rücken. Nur weil es bei uns in Österreich in vielen Dingen deutlich besser läuft als anderswo, läuft es noch lange nicht gut. So gesehen können Verhältnisse relativ sein. So gibt es international wahnsinnig viele Fälle von Gewaltübergriffen in Einrichtungen, das ist in Österreich weniger der Fall. Trotzdem ist natürlich jeder Fall einer zu viel.“

Ideal läuft es nirgendwo.

Skandinavische Länder stehen in dem Ruf, deutlich bessere Unterstützungsleistungen zu haben als Länder wie Österreich, dennoch wurde auch dort in den letzten Jahren massiv gekürzt. „Es ist immer die gleiche Argumentation: Der Sozialstaat schafft das nicht mehr. Und wo kürzt man als erstes? Man kürzt bei denen, die sich wahrscheinlich am wenigsten wehren können“, so Naue. Gekürzt beziehungsweise von vornherein gespart wird vor allem bei Assistenzleistungen – für viele aber die Voraussetzung, um überhaupt einer Arbeit nachzugehen bzw. selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. „Hier ist eine Armutsgefährdung vorprogrammiert.“

In ganz Wien werden gerade einmal knapp 300 Menschen durch die sogenannte Pflegegeldergänzungsleistung unterstützt. „Bedenkt man, dass ca. 15 Prozent aller Menschen in Österreich mit einer Beeinträchtigung leben (und daher als Menschen mit Behinderungen gelten), ist das eine lächerlich kleine Zahl“, erklärt die Forscherin. „Eine 24-Stunden-Unterstützung ist in Österreich fast unmöglich, da ist uns Skandinavien weit voraus.“

Dinge verändern sich nur unendlich zäh.

Eine ernüchternde Erkenntnis, bei der die Forscherin nur mehr frustriert die Schultern zuckt, ist die Trägheit der Veränderung. „Dinge ändern sich nur sehr langsam. Wir haben ganz viele Passagen, die können wir tatsächlich jedes Jahr wieder per Copy-and-paste mit Verweis aufs Vorjahr in den Bericht schreiben.“ Aufgeben kommt für die Politikwissenschafterin jedoch nicht infrage. „Wir versuchen unser Bestes, die Themen direkt im politischen Diskurs zu platzieren. Seit 2012 bin ich in der Begleitgruppe zur Umsetzung des Nationalen Aktionsplans Behinderung des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz vertreten.“ Hier versucht die Forscherin nicht nur, wichtige Themen unterzubringen, sondern auch neue Perspektiven einzubringen.

„Wenn man z.B. an Hindernisse denkt, denkt man bestenfalls an eine Rampe statt einer Stiege“, unterstreicht Naue. „Hindernisse können jedoch ganz unterschiedliche Formen und Ebenen umfassen, auch strukturell. Wir untersuchen diese Hürden, wollen aber vor allem mögliche Lösungen aufzeigen. Um einen Wandel zu bewirken, muss das Thema in der Gesellschaft diskutiert werden, nur so kann es behinderten Menschen in Zukunft ermöglicht werden, vollends am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.“ (il)

Hintergrundinformationen

  • Eine grundlegende Herausforderung der Analyse von Behindertenpolitik ist das großteils fehlende (oder zumindest nicht zur Verfügung gestellte) Zahlen- und Datenmaterial.
  • Die Zahl der Menschen mit Behinderungen wird in Europa (und ebenso in Österreich) mit rund 15 bis 20 Prozent angegeben (abhängig von der Frage, die gestellt wird). Das Problem mit den Erhebungen sowohl von Eurostat als auch der Statistik Austria ist dabei, dass es sich um Haushaltserhebungen handelt. Das heißt, dass Menschen in Einrichtungen ebenso von der Erhebung ausgeschlossen sind wie junge Menschen mit Behinderungen (die unter der Altersgrenze bei Haushaltserhebungen liegen).
  • Behindertenpolitik ist eine klassische Querschnittmaterie. Das heißt, das Thema Behinderung ist für praktisch alle Politikfelder relevant, wird aber sehr oft, auch in Österreich, vor allem in einem bestimmten Politikfeld verortet (Sozialpolitik).
  • Ein seit 2006 wesentlicher rechtlicher Kontext und Referenzpunkt für europäische Behindertenpolitik ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die z.B. in Österreich 2008 und von der EU 2010 ratifiziert und damit rechtlich gültig gemacht wurde.

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: Academic Network of European Disability Experts (ANED)
  • Zeitraum: 2007 – 2017
  • Wissenschaftliche Leitung und Koordination: Centre for Disability Studies an der University of Leeds
  • Institut: Institut für Politikwissenschaft
  • Finanzierung: Europäische Kommission, DG Employment, Social Affairs and Inclusion, Disability Unit
  • Kooperationen: Vertreter*innen aus allen 28 EU-Ländern sowie Island, Liechtenstein, Mazedonien, Montenegro, Norwegen, Serbien und Türkei