Komplexe Prozesse der „Dequalifizierung“ von Migrant*innen in Wien verstehen
Herausforderungen und Lösungsstrategien
Überblick
- Das Projekt „DeMiCo“ untersucht, warum so viele gut ausgebildete Menschen aus Zentral- und Osteuropa in Österreich in unterqualifizierten Jobs arbeiten.
- Die Hürden und Schwierigkeiten, denen sich Arbeitssuchende aus Ungarn, Rumänien und Tschechien stellen müssen, sowie mögliche Lösungsstrategien stehen im Fokus des Projektes.
- Erste Ergebnisse zeigen, wie sich institutionelle Rahmenbedingungen, Diskriminierungserfahrungen und Deutschkenntnisse maßgeblich auf die Lebensrealitäten von Betroffenen auswirken.
Bürger*innen aus EU-Ländern, die ab 2004 beigetreten sind, begegnen bei der Arbeitssuche in Österreich zahlreichen Hindernissen. Forscherinnen der Universität Wien befragen Betroffene zu ihrer persönlichen Wahrnehmung und Handlungsfähigkeit in Bezug auf diese Problematik und interpretieren diese anschließend im Zusammenspiel mit institutionellen Arbeitsmarktstrukturen.
In der Forschung spricht man von Dequalifizierung, wenn Menschen unter ihren beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten – also ihren erworbenen Qualifikationen – arbeiten. Statistiken zeigen deutlich, dass Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft weitaus häufiger davon betroffen sind als Österreicher*innen. Qualitativ wurde dazu jedoch bisher erst wenig geforscht. Wie werden diese Dequalifizierungsprozesse von den Migrant*innen selbst wahrgenommen? Welche Diskriminierungserfahrungen machen die Menschen und welche Lösungsstrategien setzen sie ein?
Das untersuchen Elisabeth Scheibelhofer, Clara Holzinger und Anna-Katharina Draxl vom Institut für Soziologie im Rahmen des vom FWF geförderten Forschungsprojekts „Herstellung von Dequalifizierung bei ‚neuen‘ EU-Migrant*innen“ (DeMiCo). Im Fokus von DeMiCo stehen die Lebensrealitäten hochqualifizierter Menschen aus Ungarn, Rumänien und Tschechien, die in Wien leben und arbeiten, aber ihre Studienabschlüsse im Ausland erworben haben. Im Zentrum stehen die individuellen Handlungs- und Lösungsstrategien der Migrant*innen im Umgang mit den Hindernissen und Benachteiligungen bei der Arbeitssuche. Diese werden in Zusammenarbeit mit Dolmetscher*innen mittels interpretativer Interviews erhoben.
Ergänzend dazu werden auch institutionelle Akteur*innen wie etwa Vertreter*innen der Wirtschaftskammer (WKO) und des Arbeitsmarktservice (AMS) befragt sowie ethnographische Beobachtungen gemacht, um die Handlungsfähigkeit der Migrant*innen in einem größeren institutionellen Netz verstehen zu können. Zwischenergebnisse zeigen auf, dass neben strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen auch soziale Netzwerke, Deutschkenntnisse sowie Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen eine große Rolle in den Lebensrealitäten der von Dequalifizierung betroffenen Menschen spielen.
Die Menschen kommen mit bestimmten Vorstellungen nach Österreich, und werden dann mit der Realität konfrontiert
Ein anschauliches Fallbeispiel, erzählt Clara Holzinger, seien etwa Erfahrungen von Estera (Name von der Redaktion geändert), einer jungen Frau aus Rumänien. Estera ist diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, die nach Wien gekommen ist, um hier zu arbeiten. "Man sollte meinen, das sei auch sehr im Sinne Österreichs, das einen akuten Pflegemangel zu verzeichnen hat und ausgebildete Krankenpfleger*innen händeringend sucht", so Holzinger. Estera zog mit ihrem Partner und einem kleinen Kind nach Wien und versuchte hier, ihre Ausbildung als Krankenpflegerin anerkennen zu lassen – ein in Österreich besonders langwieriger und aufwändiger Prozess mit vielen bürokratischen Hürden. Bis die Nostrifizierung – die Anerkennung von Esteras Ausbildung als einem österreichischen Abschluss gleichwertig – endlich abgeschlossen war, arbeitete sie als unterbezahlte Pflegehilfskraft. Die Vereinbarkeit von Lohnarbeit, Care-Arbeit (Fürsorge und Pflegearbeit für das eigene Umfeld, etwa Kindererziehung, Haushalt, Pflege von Angehörigen), Deutschkursen und der Nostrifizierung war kaum zu bewältigen. Estera war kurz davor, aufzugeben und nach Rumänien zurückzukehren. Mit der Unterstützung von Familienangehörigen und viel Eigenmotivation, etwa beim Deutschlernen im Eigenstudium, oft mitten in der Nacht, hat sie es trotz der vielen Hürden doch noch geschafft, als Krankenpflegerin in Wien zu arbeiten.
Reproduktion von Hierarchien
Um in die „Black Box“ des Dequalifizierungsprozesses hineinschauen zu können, brauche es qualitative Interviews, die sehr schwach strukturiert sind und den Betroffenen selbst Raum geben, ihre eigene Sicht auf das Phänomen ausführlich darzustellen. Einen Fragebogen gibt es dabei nicht – die Migrant*innen bekommen in den Interviews die Möglichkeit, frei und offen ihre Geschichte zu erzählen und ihre eigenen Gedanken zu entwickeln. „Die Interviewten erzählen uns in sehr kurzer Zeit ihr Leben. Es entsteht eine neue Situation, die sowohl mit den Interviewten als auch mit uns als Forscherinnen etwas macht “, erläutert Clara Holzinger. Beeinflusst von gesellschaftlichen Machtverhältnissen wird die konkrete Interviewsituation von den Beteiligten gemeinsam hergestellt und regt dadurch Forschende und Beforschte an, ein Phänomen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und zu reflektieren. So werden neue Erkenntnisse möglich. Diese Art von Gespräch kann nur in einer sehr vertrauensvollen Atmosphäre mit möglichst wenig Hierarchien zwischen den Gesprächspartner*innen stattfinden.
Dass trotz aller Bemühungen seitens der Forschenden Hierarchien nicht gänzlich abgebaut werden können, zeigt sich vor allem, sobald es um Diskriminierungserfahrungen geht. „Wir gehen mit der Hypothese in das Gespräch, dass unsere Interviewpartner*innen von Rassismus betroffen sind, da wir in einer rassistisch geprägten Gesellschaft leben“, erklärt Anna-Katharina Draxl. Oft wird dieses Thema in den Interviews jedoch gemieden oder verneint. Das hat laut den Forscherinnen mit den Hierarchien der anwesenden Personen zu tun: „Wir kommen nicht nur als Forscherinnen ins Gespräch, sondern auch als Weiß konstruierte Österreicherinnen ohne Migrationshintergrund“, ergänzt Clara Holzinger. Daraus ergibt sich eine Machtdynamik auf mehreren Ebenen. Zum einen haben die Forschenden die Macht, über die Erfahrungen und Lebensrealitäten der Migrant*innen zu berichten. Zum anderen leben sie in sehr anderen Lebensrealitäten, wie die Projektleiterin Elisabeth Scheibelhofer zeigt: „Wir haben nicht nur einen prestigeträchtigen Beruf als Wissenschafter*innen, sondern gehen auch durch unseren Alltag, ohne dass sprachliche Hürden oder ein Aussehen, das nicht der Norm entspricht, beeinflussen, wie wir wahrgenommen und behandelt werden“. Diese Dinge müssen laut den Wissenschafterinnen stets mitreflektiert werden, wenn es darum geht zu verstehen, warum Diskriminierungserfahrungen von den Betroffenen nicht immer offen angesprochen werden.
Die Rolle von Sprache
Ein Ansatz, um die Hierarchien im Hinblick auf Sprache zu vermindern ist im Projekt zentral verankert: „Wir leben in einer mehrsprachigen Gesellschaft – das möchten wir ganz bewusst in DeMiCo widerspiegeln“, erläutert Elisabeth Scheibelhofer. Den Interviewten im Projekt wird daher freigestellt, in welcher Sprache sie das Interview führen wollen – ob auf Deutsch, Englisch oder ihrer jeweiligen Erstsprache. „Dieser mehrsprachige Ansatz ist eine zentrale Botschaft und ein innovativer Aspekt im Rahmen von DeMiCo“, erklärt die Forscherin weiter. Dass genügend Budget für professionelle Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen kalkuliert und auch gefördert wird, ist in der Forschung leider immer noch nicht Standard und methodologische Implikationen werden in der soziologischen Literatur bisher unzureichend behandelt. DeMiCo möchte folglich einen innovativen Beitrag zur Weiterentwicklung von Forschungsmethoden im Kontext von gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit leisten. Das Forschungsteam verfolgt daher einen kooperativen Ansatz, der eine enge Zusammenarbeit mit professionellen Dolmetscher*innen und Übersetzer*innen vorsieht, welche in qualitativen Interviewmethoden geschult werden und in die Reflexion eingebunden werden.
Im alltäglichen Leben der von Dequalifizierung betroffenen Menschen spielen sprachliche Hürden oft eine große Rolle. Ob die Menschen nach Ankunft in Österreich Deutsch lernen können, bevor sie anfangen zu arbeiten, entscheidet oft der sozioökonomische Hintergrund: „Vor allem Menschen aus Rumänien sind oft gezwungen, sofort Geld zu verdienen, und sind daher dazu verleitet, eine Stelle anzunehmen, die nicht ihrem Ausbildungsniveau entspricht“, berichtet Anna-Katharina Draxl. So werden etwa häufig niedrigqualifizierte Reinigungsjobs angenommen, die bereits mit geringen Deutschkenntnissen ausgeübt werden können. Durch eine hohe Belastung von Job und Care-Arbeit ist es jedoch sehr schwierig, sich die nötigen Deutschkenntnisse für eine Anerkennung der beruflichen Qualifikationen anzueignen. Somit stecken zahlreiche Migrant*innen in einem Teufelskreis der Unterqualifizierung. Und selbst wenn Deutsch nicht immer offiziell für den Arbeitsplatz gebraucht wird, wird es doch oft pro forma verlangt. So etwa auch an Universitäten oder in internationalen Organisationen, wo Englisch oft Arbeitssprache ist.
Strukturelle Dequalifizierung
Der Dequalifizierungsprozess sei ein Zusammenspiel von der eigenen Handlungsmacht von Migrant*innen, institutionellen Rahmenbedingungen und Arbeitsmarktstrukturen, erklärt das Forschungsteam. Die Diskriminierung, die die Migrant*innen erfahren, sei strukturell und habe eine Funktion . „Es bräuchte eine Wirtschaft, die niemanden ausbeutet, und die ohne diese Hierarchien auskomme“, so Clara Holzinger. Es geht im Projekt also um einen Beitrag, soziale Ungleichheiten und insbesondere Diskriminierung zu reduzieren, die keine Berechtigung hat.
„Wir sollten uns als Gesellschaft die Frage stellen, ob wir uns mit dieser Diskriminierung nicht eigentlich selbst schaden“, wirft Elisabeth Scheibelhofer auf. Notwendige gesellschaftliche Veränderungen wären ein Sichtbarmachen dieser Diskriminierungen, eine Wertschätzung von Mehrsprachigkeit und Diversität - sowohl am Arbeitsmarkt als auch in Gesellschaft und in der Forschung selbst - und viel mehr Diskurs darüber. Akteur*innen in Institutionen wie dem AMS, aber auch Arbeitgeber*innen und Recruiter*innen müssten verstärkt für diskriminierende Mechanismen (auch in Hinblick auf Sprache) sensibilisiert werden. Zugleich müssten bürokratische Hürden abgebaut und unterstützende Maßnahmen wie Sprachkurse auch auf höheren Niveaustufen, aber auch Informationsangebote und Unterstützungsleistungen zu Weiterbildungs- und Requalifizierungsmöglichkeiten, vermehrt zur Verfügung gestellt werden. Dazu möchte das Projekt einen Beitrag leisten. Neben wissenschaftlichen Publikationen und Präsentationen sind daher auch Vorträge und Veröffentlichungen, die sich an ein breiteres Publikum sowie an institutionelle Akteur*innen richten, ein zentrales Anliegen des Forschungsteams. Auch eine Vortragsreihe, die sich dem Thema Mehrsprachigkeit in der Forschung widmet, wurde im Wintersemester 2023/24 organisiert. Die Studienergebnisse kommen nicht zuletzt auch arbeitsmarktpolitischen Akteur*innen wie dem AMS zugute, die aufgrund der Erkenntnisse mehr Ressourcen für etwa mehrsprachige Angebote für arbeitssuchende Migrant*innen zur Verfügung stellen könnten. (er)
Eckdaten zum Projekt
- Titel: DeMiCo – Herstellung von Dequalifizierung bei "neuen" EU Migrant*innen
- Laufzeit: 05/2021 – 04/2025
- Projektteam: Elisabeth Scheibelhofer, Clara Holzinger, Anna-Katharina Draxl
- Dolmetscherinnen/Übersetzerinnen:
Rumänisch-Deutsch: Cinzia Hirschvogl & Corina Niţu
Tschechisch-Deutsch: Ladislava Baxant-Cejnar & Michaela Kuklová
Ungarisch-Deutsch: Anna Ledó & Izabella Nyari - Institut: Institut für Soziologie
- Finanzierung: Austrian Science Fund (FWF)
Publikation
- Scheibelhofer, E., Holzinger, C. & Draxl, A. (2023). Confronting Racialised Power Asymmetries in the Interview Setting: Positioning Strategies of Highly Qualified Migrants. Social Inclusion, Vol. 11(2), pp. 80-89: doi.org/10.17645/si.v11i2.6468