Zwei Buben sitzen auf einer Gehsteigkannte und blicken in ihre Smartphones.

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Zivilcourage im Internet: Zuschauen oder handeln?

Überblick

  • Obwohl Jugendliche im Internet besonders häufig digitale Gewalt unter Gleichaltrigen beobachten, ist ihr zivilcouragiertes Engagement online noch geringer als offline.
  • Ein Forschungsteam um Soziologin Ulrike Zartler untersucht, wie sich die Zivilcourage von Jugendlichen im Netz verbessern lässt.
  • Erste Ergebnisse lassen vermuten, dass gängige Konzepte von Zivilcourage für Jugendliche online nicht übertragbar sind. Während Zivilcourage offline oft mit „Mut“, „Heldentum“ und „Respekt“ assoziiert wird, bleiben diese Attributionen online aus.

„Was ist das für eine hässliche scheiße! Häng dich auf du fette sau du bist es nicht wert!“ [sic] Beleidigungen und Grenzüberschreitungen sind im Internet alltäglich, rund 37 Prozent aller 12- bis 19-Jährigen (Feierabend et al. 2017) kennen jemanden, der oder die im Internet fertig gemacht wurde. Anders als bei Offline-Übergriffen gibt es bei Online-Attacken ein ungleich größeres, aber nicht klar definiertes Publikum mit einer unbeschränkten Anzahl an ZeugInnen. Während die Unwissenheit über diesen ZuschauerInnenkreis das Opfer zusätzlich verunsichern kann, haben die vermeintlich Schaulustigen gleichzeitig das große Potenzial, dem Opfer helfend zur Seite zu stehen. Leider bleibt diese Form von Zivilcourage fast immer aus, sagt Soziologin Ulrike Zartler.

Ob nun in Form von Beleidigungen, ungefragtem Zusenden oder Weiterleiten privater, manipulierter, sexueller, rassistischer oder auch gewaltverherrlichender Inhalte oder der missbräuchlichen Verwendung von Social Media Accounts – Cybermobbing kennt viele Gesichter. „Grenzüberschreitungen im Netz gehören heute zur Lebensrealität von Jugendlichen“, erklärt die Soziologin Ulrike Zartler. Gemeinsam mit Christiane Atzmüller und Ingrid Kromer erforscht sie im Projekt „Zivilcourage 2.0“, welche Faktoren und Mechanismen die Zivilcourage von Jugendlichen im Internet fördern und welche sie hemmen. „Wir suchen nach effektiven Strategien, mit denen Online-Bystander – also unbeteiligte Dritte, die ZeugIn des Geschehens werden – den Opfern helfen können. Denn die Opfer können sich oft nur bedingt wehren“, sagt Zartler. Diese Strategien entwickeln die drei Forscherinnen gemeinsam mit praxiserprobten Partnern, wie dem Büro für Kriminalprävention und Opferhilfe des Bundeskriminalamts, dem Mauthausen-Komitee Österreich und dem Österreichischen Institut für angewandte Telekommunikation (saferinternet.at). Erarbeitet werden praxisgeleitete Trainingskonzepte, Online-Kampagnen und Schulungsangebote. Finanziert wird das Projekt von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG).

Geforscht wurde partizipativ: In einem Mixed-Methods-Setting wurden 142 Jugendliche im Alter von 14 bis 19 Jahren aus unterschiedlichen Kontexten und mit verschiedenen Bildungsniveaus in Gruppendiskussionen befragt. In Workshops mit Jugendlichen entwickelte das Team daraufhin Vignetten – systematisch variierte Online-Übergriffsszenarien –, die in einem zweiten Schritt rund 1.870 Jugendlichen zu einer computergestützten Bewertung vorgelegt wurden.

Die Vignette zeigt ein Posting mit mehreren Reaktionen drauf. Unterschiedliche Aspekte sind in roten ovalen Markierungen hervrogehoben.

Vignetten visualisieren typische Situationen von Cybermobbing, mit denen Jugendliche in sozialen Netzwerken konfrontiert werden, der zugehörige Kontext wird bei Vignetten systematisch variiert. Inhalt und Tonalität wurden gemeinsam mit den Jugendlichen erarbeitet, die an den Gruppendiskussionen und Workshops teilgenommen haben. © Christiane Atzmüller, Ingrid Kromer, Ulrike Zartler

Wer schweigt, macht sich mitschuldig

„Wir wissen bereits, dass Opfer von Cybermobbing es wirklich schwer haben, sich effektiv zu wehren. Viele berichten von einem Gefühl der Machtlosigkeit. Denn obwohl die Opfer ‚nur‘ digital bloßgestellt werden, ist die Verletzung trotzdem absolut real und in vielen Fällen öffentlich verewigt und einsehbar – das Internet vergisst nie. Daher setzen wir stattdessen bei der schweigenden Masse an: Wir möchten den ZuschauerInnen vermitteln, dass sie solche Übergriffe nicht hinnehmen müssen und auch selbst etwas dagegen unternehmen können“, erklärt Zartler. Denn ähnlich wie bei unterlassener Hilfeleistung im analogen Leben auch machen sich unbeteiligte Dritte in gewisser Weise mitschuldig: Als stille ZeugInnen lassen sie die Grenzverletzung zu, finden voyeuristisch vielleicht sogar Gefallen an der Bloßstellung und verbreiten verletzenden Inhalt zur Belustigung auch des Öfteren weiter. „Wer schweigt, lässt den Vorfall zu. Wir wissen aus Interviews, dass lange nicht alle Jugendliche an solchen Angriffen Gefallen finden, es jedoch an effektiven Strategien mangelt, dem Opfer beizustehen“, so Atzmüller. „Und genau die versuchen wir, gemeinsam mit den Jugendlichen zu entwickeln.“

„Opfer sein ist armselig“

Ein Grund für das fehlende Einschreiten ist oft die Unsicherheit, wie eine Situation zu bewerten ist. „Im Internet gibt es natürlich weniger bzw. eine ganz andere Art von Kontext. Während wir in persönlichen Situationen Mimik und Gestik haben und eben auch genau wissen, wer noch anwesend ist, fallen diese Interpretationshinweise online weg. Oft beschimpfen sich online auch Freunde aus Spaß untereinander, besonders Burschen, und es sieht nur für Außenstehende wie eine ernste Situation aus. Wer hier den Kontext falsch versteht, blamiert sich schnell und läuft Gefahr, selbst zum Opfer zu werden“, weiß Atzmüller. Überhaupt, die Angst, bei einem Eingreifen selbst zur Zielscheibe zu werden, ist groß und laut den Wissenschafterinnen auch berechtigt. Erschwerend hinzu kommt die Haltung vieler Jugendlicher, dass Hilfe häufig kontraproduktiv sei. „Es impliziert, dass das Opfer sich nicht alleine wehren kann, was die Opferrolle noch zementiert. Denn hier sind sich die Jugendlichen einig: Opfer sein ist armselig, um Hilfe bitten ist ein no go“, so Atzmüller.

Gängige Konzepte von Zivilcourage sind online wirkungslos

Dem Opfer und auch besorgten ZeugInnen sind so leicht die Hände gebunden. Denn während klassische Zivilcourage gesellschaftlich belohnt und heroisch gefeiert wird, was den Eingreifenden ein gutes Gefühl gibt, bleibt dieser Effekt online völlig aus, da es hier auch keine sichtbare Entspannung der Situation gibt. „Das ist eine völlig neue Erkenntnis und hat uns überrascht. Gängige Mechanismen von Zivilcourage lassen sich online nicht anwenden“, betont Zartler. „Es gibt natürlich die Strategie, noch massiver zurückzuschimpfen, aber dafür muss man gut kontern können. Es muss ja trotzdem mitschwingen, dass einen der Angriff prinzipiell kalt lässt.“ Alternativ haben Opfer die Möglichkeit, von der Meldefunktion unterschiedlicher Plattformen Gebrauch zu machen, aber Anerkennung kann sich das Opfer so kaum einholen. „Jugendliche melden oft nur aus Spaß, um sich gegenseitig zu ärgern, und nehmen diese Funktion selten ernst. Auch Erwachsenen – z.B. Eltern, LehrerInnen – wollen sich die Jugendlichen nur selten anvertrauten, denn hier liefe man ja Gefahr ein Handyverbot zu bekommen – und das kommt oft einem sozialen Ausschluss gleich.“ Insgesamt haben Jugendliche im Internet das Gefühl, „immer zu spät“ dran zu sein: „Selbst wenn ein Beitrag aufgrund einer Meldung gelöscht wird, war er bereits veröffentlicht und niemand weiß, wie viele Personen diesen schon gesehen oder bereits heruntergeladen haben“, fügt die Soziologin hinzu.

Abstumpfen als Entwicklungsaufgabe

„Es herrscht ein hoher Druck, ständig online zu sein und auf Dinge zu reagieren“, berichtet Zartler. Auf die Frage, wie die Jugendlichen mit diesem Druck umgehen, ergab sich ebenfalls ein erster Konsens: Laut Forscherinnen beschreiben Jugendliche ihre Entwicklung im Umgang mit Internet und sozialen Medien als Prozess, den sie durchlaufen und an dessen Ende sie gelernt haben, Online-Angriffe nicht ernst zu nehmen. Als Opfer müsse man sich zwar trotzdem wehren, gerade unter Burschen wird eine Online-Attacke häufig offline ausgefochten, aber man dürfe die Grenzüberschreitungen auf keinen Fall persönlich nehmen und Schwäche zeigen. „Die Sozialisationstheorie nimmt an, dass jede Generation Heranwachsender vor Entwicklungsaufgaben steht, die sie lösen müssen, um erwachsen zu werden. Ich bin mir sicher, die Jugendlichen würden mir zustimmen, dass der Erwerb dieser Abgebrühtheit im Umgang mit sozialen Medien zurzeit eine dieser Entwicklungsaufgaben ist“, so Zartler.

Das Netz ist ein hartes Pflaster

„Wir beobachten hier eine Art selbsterworbener Medienkompetenz, die natürlich auch ihre Tücken hat. Denn das bewusste Ignorieren von Grenzüberschreitungen verschiebt bestehende Hemmschwellen und erfordert eine neue Verhandlung darüber, was als Übergriff gilt und was noch okay ist. Außerdem führt es dazu, dass weniger Jugendliche eingreifen, wenn jemand verletzt wird“, erklärt Atzmüller. So auch im Fall eines 15-jähriges Mädchens, das im November 2017 in Kagran von sechs Jugendlichen brutal zusammengeschlagen wurde: Anstatt zu helfen, filmten Umstehende die Situation/Tat und verbreiteten das Video tausendfach im Internet. Mit der Abgebrühtheit manifestiert sich oft auch eine Art Victim Blaming, also einer Täter-Opfer-Umkehr: „Das hören wir ständig: ,Wer das ernst nimmt, ist selbst Schuld!‘ Oder: ,Hätte sie ihm halt keine Nacktbilder schicken sollen‘“, so die Forscherin.

Was tun gegen Cybermobbing?

Was können Opfer und ZeugInnen also tun, um sich zu wehren? „Zurzeit ist es so, dass Online-Zivilcourage oft in Form von Privatnachrichten stattfindet. FreundInnen erkundigen sich, ob es dem Opfer gut geht, und es wird Mut zugesprochen“, erklärt Zartler. „So geben sich Opfer und ZeugInnen keine Blöße, dennoch bleibt der Angriff bestehen, die Aggression wird nicht entkräftet und andere ZuschauerInnen erfahren nicht, dass es diesen Akt der Solidarität gab.“ Bewährt haben sich laut Forscherinnen humoristische Entkopplungen, die den Angriff bewusst ins Lächerliche ziehen und dem Angreifenden zeigen, dass das vermeintliche Opfer über solchen Übergriffen steht – eine Taktik, bei denen Bystander genauso die Initiative ergreifen können. Hierfür halten unterschiedliche Projekte eine Reihe an Memes bereit: Dabei handelt es sich um teils animierte Bilder, die nach gängigen Mechanismen und Tonalitäten des Internets aufbereitet wurden und eine Situation entschärfen können. Häufig richten sie sich aber an Erwachsene. Wie das auch für Jugendliche funktionieren kann, wird das Forschungsteam ab März 2019 im Projekt „Cyber Heroes“ erforschen. Christiane Atzmüller: „Denkbar wäre, dass eine Mobilisierung über diesen Weg gerade für Jugendliche attraktiv ist. Das ist ja das Schöne am Internet: Gleichgesinnte können sich gegenseitig unterstützen.“

Meme mit der weißen Aufschrift: Haters gonna hate, zeigt einen Mann dunkler Hautfarbe in weißem Anzug der einen kleinen Zigarre rauchenden Pudel Stolz an der Leine führend über die Straße schreitet.

Eine Strategie, die sich laut Forscherinnen bewährt hat, ist die humoristische Entkopplung von Online-Angriffen. Hierfür halten unterschiedliche Projekte eine Reihe an Memes bereit, die eine Situation entschärfen. © no-hate-speech.de

Von Jugendlichen lernen: „Ihr seid die ExpertInnen!“

Als fixer Bestandteil des geplanten Medientrainings sollen Jugendliche gemeinsam reflektieren, was überhaupt eine Grenzüberschreitung darstellt, um so ein anderes Bewusstsein für die eigenen Handlungen zu schaffen. „Im Kleinen geschah dieser Prozess natürlich schon in den Gruppendiskussionen: Hier haben Realgruppen gemeinsam über Internet-Gewalt reflektiert. Obwohl die Thematik in der Lebensrealität der Jugendlichen eine große Rolle spielt, war es für die TeilnehmerInnen eine völlig neue Erfahrung, gemeinsam in sicherer Distanz über das Thema zu reden – diese Möglichkeit gibt es sonst praktisch nie“, sagt Atzmüller. „Natürlich können wir keine Angaben darüber machen, inwieweit das Verhaltensänderungen hervorruft.“ Trotz der schwierigen Problematik waren die Forscherinnen überrascht, wie bereitwillig und offen die Jugendlichen über ihre Erfahrungen gesprochen haben. „Hier hat es sicher geholfen, dass wir ganz klargemacht haben: ‚Ihr seid die ExpertInnen, zeigt uns, wie es online läuft.‘ Wir sind bewusst ohne pädagogischen Anspruch, sondern mit ehrlichem Interesse in die Diskussionen gegangen – wir wollten von der Jugend lernen.“

Unter dem Titel „Zivilcourage Online: Jugendliche und Gewalt im Internet“ fand am Donnerstag, den 21. Februar 2019 von 13.00–17.00 Uhr in der Aula am Campus der Universität Wien die Abschlusskonferenz des Projekts statt.

Ein Balanceakt zwischen Authentizität und Grenzüberschreitung

Dank des wertvollen Inputs aus den Gruppendiskussionen gelang es den Forscherinnen, einen tieferen Blick auf die Online-Welt der Jugendlichen zu erlangen. Trotz sicherer Distanz löste dies beim Team auch Betroffenheit aus. „Es ist schon heftig, womit Jugendliche heute konfrontiert sind – das starke Gefühl der Hilflosigkeit, von dem uns Opfer berichteten, bestärkte uns darin, dass es dringend wirkungsvolle Strategien braucht“, berichtet Zartler. Neben der persönlichen Betroffenheit war es für die Wissenschafterinnen eine Herausforderung, für das Vignettenexperiment wirkungsvolles Material zu schaffen, ohne über die Stränge zu schlagen. „Wir standen vor dem Balanceakt, authentisch zu sein, ohne Gefahr zu laufen, die Jugendlichen zu verstören oder selbst zum Online-Mobbing beizutragen“, fügt die Soziologin hinzu. Diese Sorge wurde jedoch schnell entkräftet, denn der Online-Stimulus wurde nach einem Pretest zwar als authentisch, aber noch relativ harmlos eingestuft. „Ihr wollt gar nicht wissen, was im Darkweb alles so abgeht“, kommentierte laut Forscherinnen ein Jugendlicher das Material. (il)

Referenzen
Feierabend, Sabine / Plankenhorn, Theresa / Rathgeb, Thomas (2017): JIM-Studie 2017: Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland. Stuttgart.

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: „Zivilcourage von Jugendlichen im Umgang mit wahrgenommener Gewalt im Internet“
  • Laufzeit: 1.9.2016 – 31.8.2018
  • Beteiligte und PartnerInnen: Christiane Atzmüller, Ingrid Kromer und Ulrike Zartler
  • Institut: Institut für Soziologie
  • Finanzierung: Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft FFG (KIRAS)
  • Kooperationen: ÖIAT – Österreichisches Institut für angewandte Telekommunikation | MKÖ – Mauthausen Komitee Österreich | KPH – Kirchliche Pädagogische Hochschule Wien/Krems | BM.I – Bundeskriminalamt, Büro 1.6 Kriminalprävention und Opferhilfe

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