Ein Arzt in weißem Kittel und zwei Pflegerinnen stehen um ein Krankbett. Camera blickt einer Pflegerin über die Schulter, sie hält ein Tablet in der linken Hand.

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Künstliche Intelligenz und therapeutische Interaktion

Überblick

  • KI und Ergotherapie? Wie soll das zusammenpassen? Ein österreichisches Projektkonsortium hat ein Pilotprojekt im Bereich der Handchirurgie durchgeführt.
  • Wie lässt sich die umfangreiche Datenspur, die jede*r Patient*in im Krankenhaus erzeugt, sinnvoll aufbereiten?
  • Das Forschungsprojekt ermutigte auch die Therapeut*innen zur Auseinandersetzung mit ihren eigenen Praktiken und Routinen.

Können Künstliche Intelligenz und Visualisierungssoftware bei der Suche nach behandlungsrelevantem Wissen in der postoperativen Therapiesitzung Nutzen stiften oder sorgen sie bloß für zusätzliche Verwirrung? Am Ende eines interdisziplinären Forschungsprojektes weiß man nun einiges darüber, wie therapeutisches Wissen in digitalen Krankenhausinformationssystemen verfügbar ist, wie kommuniziert wird und wo man in Zukunft bei der Verbesserung der Kommunikation zwischen den medizinischen Berufsgruppen ansetzen könnte.

„Eine Patientin, die drei Tage im Krankenhaus liegt, hinterlässt im Regelfall eine Menge an Daten, und über einen längeren Zeitraum kann dieses Datenkonvolut auf mehrere hundert Seiten anschwellen“, erklärt Michaela Pfadenhauer vom Institut für Soziologie. „Da finden sich PDF-Dateien aller Art, Dokumente wie EKGs, die aus Maschinen herauslaufen, handschriftliche Einträge des Personals am Krankenbett, Ausdrucke des Krankenhausinformationssystems etc.“ Diese Informationsflut zu strukturieren stellt eine gewaltige Herausforderung dar, der sich ein von der FFG gefördertes Projektkonsortium annahm, dem unter anderen die IMC Fachhochschule Krems und die Universität Wien angehörten. Im Rahmen einer Pilotstudie widmeten sich die Forscher*innen aus dem medizinischen, arbeitspsychologischen, therapeutischen, soziologischen und informatischen Bereich insbesondere der Perspektive der nachbehandelnden Berufe.

„Wir haben uns ein wirklich kleines, eng umrissenes Feld der medizinischen Praxis herausgenommen, nämlich die Handchirurgie und deren ergo- und physiotherapeutische Nachsorge“, erläutert Christopher Schlembach, ebenfalls vom Institut für Soziologie. „Das Krankenhaus ist nun einmal eine Institution, die auf das Sparen von Zeit und Geld großen Wert legt“, analysiert Pfadenhauer. Für die Therapeut*innen ergeben sich daraus ganz konkrete Zwickmühlen: „Verwende ich die fünf Minuten, die ich habe, bevor die gerade an der Hand operierte Patientin vor mir sitzt, wirklich dazu, dutzende Dateien zu öffnen und wie eine Wilde dieses gewaltige schriftliche Reservoir durchzugehen und mir anhand der Daten einen Überblick zu verschaffen – oder frage ich: ‚Wo tut’s denn weh?‘“

Die Frage, der die Forscher*innen nachgingen, war im Grunde ganz einfach: Kann Künstliche Intelligenz an dieser Stelle – also zu dem Zeitpunkt, an dem die therapeutische Behandlung einsetzt – Nutzen bringen, indem sie etwa die relevanten Daten, die ein*e Therapeut*in in dem Moment braucht, aggregiert, aufbereitet und visualisiert, oder würde sie die ganze Sache nur noch komplizierter machen? Die abschließende Antwort steht noch aus, doch wahrscheinlich kann sie nur lauten, wie Michaela Pfadenhauer sie lapidar formuliert hat: „Beides, es kommt drauf an, wie gut das System an die Bedarfe der Professionen angepasst ist.“

Wir haben Therapeut*innen bei ihrem Tun beobachtet

Für das Projektkonsortium stand die Perspektive der Nachbehandlung im Vordergrund. „Es schien uns am sinnvollsten, uns an der Berufspraxis derer zu orientieren, die die ganze Zeit mit den verfügbaren Dokumentations- und Informationssystemen und mit den Patient*innen arbeiten – also der Therapeut*innen“, betont Pfadenhauer. „Dieser Zugang hat sich bewährt.“ Denn üblicherweise orientiert sich das System Krankenhaus an den Bedürfnissen der ärztlichen Profession – „und das ist auch nachvollziehbar“, meint Schlembach, „denn die Ärztin, vor allem die Chirurgin, hat die ‚Lizenz zum Verletzen‘ und trägt daher die Gesamtverantwortung. Aber zu einem späteren Zeitpunkt stehen andere Themen und Probleme der Patient*innen im Fokus und deswegen wollten wir das aggregierte Material aus einem anderen Blickwinkel in den Fokus nehmen und so versuchen, den Informationsbedarf der Therapeut*innen aus Sicht dieser Berufsgruppe an das hochspezifische Krankenhaus-Informationssystem heranzutragen.“ Dafür setzten die Forscher*innen ganz nah an der therapeutischen Praxis an.

„Wir haben Therapeut*innen bei ihrem Tun mit den Patient*innen beobachtet“, schildert Schlembach den Forschungsprozess. In zwei der insgesamt drei teilnehmenden Kliniken nahmen die Wissenschafter*innen – nach entsprechendem Clearing durch drei Ethikkommissionen – an Therapiesitzungen teil und machten umfangreiche Observationen, die sie schriftlich festhielten. „Nach der Therapieeinheit hatten wir gewissermaßen Debriefings, bei denen wir fragen konnten: ‚Warum haben Sie an dieser Stelle an jenes Symptom gedacht?‘ – ‚Warum haben Sie bei diesem Schmerz nachgefragt und bei dem anderen nicht?‘“ Außerdem demonstrierten die Therapeut*innen, wie sie ihre Befunde in das Computersystem eintragen. „Da passiert zwar unglaublich viel“, erläutert Schlembach, „aber eingetragen wird dann oft nur, was für die Krankenhausverwaltung relevant ist. Darauf ist das System auch ausgerichtet.“ Dies hat aber zur Folge, dass die Kommunikation unter Kolleg*innen häufig informell, beispielsweise mittels Post-it-Zetteln funktioniert. „So werden Informationen weitergegeben, die für das System nicht berichtenswert sind, die aber kurzfristig im Behandlungsverlauf wertvoll sind. Das können Therapieideen sein oder beachtenswerte Auffälligkeiten.“

Das methodische Ziel war die Formulierung eines Vokabulars, mit dem sich das therapierelevante Wissen erfassen lässt. Dafür eignet sich die Methode der Ethnografischen Semantik, mit der Wortgruppen (sog. Domänen), die demselben Bedeutungsfeld angehören, gebildet werden. „Aus der Beobachtung sind sehr viele Daten entstanden, die wir in einem recht komplizierten Prozess in exemplarische Domänen geordnet haben – etwa die Klassifikation von Schmerzen oder spezifische Elemente aus OP-Berichten“, erklärt Schlembach. „Mit quasi fokussierter Ethnografie wollten wir einen bestimmten Aspekt herausarbeiten, ein bestimmtes Begriffsinventar entwickeln, dessen Verwendung wir kontextualisieren wollten: Wie wird das verwendet, wie können wir das mit den Krankenakten verknüpfen, damit eine zukünftige Künstliche Intelligenz etwas damit anfangen kann!?“ Dabei ging es auch um ganz grundsätzliche Design-Fragen: Ist beispielsweise eine mehr oder weniger komplizierte Knochenfraktur als Text oder als Bild leichter und schneller verständlich? Wie lassen sich Schmerzen oder Komplikationen und ihre Dynamiken visualisieren?

Wir wollten Fährten in das semantische Feld schlagen

Für die Erhebung der Begriffsfelder und Praktiken war zunächst keine repräsentative Erhebung erforderlich. „Wir suchten nach typischen Perspektiven“, verdeutlicht Pfadenhauer. „Wir wollten Fährten oder Schneisen in das semantische Feld schlagen, und dafür reichte uns ein überschaubares Sample. Wir mussten nicht gleich nach allem fragen.“ Um die Typik der Probleme zu beurteilen, war es aber von großem Vorteil, dass mit der IMC FH Krems und der MedUni Graz die beteiligten Professionen – Ergotherapie und Handchirurgie – Teil des Projektkonsortiums waren. Damit war das multidisziplinäre Forschungsteam perfekt aufgestellt.

Um dann im Weiteren die Generalisierbarkeit der Ergebnisse zu prüfen, führten im Anschluss an die Feldarbeit die beteiligten Arbeitspsycholog*innen der Universität Graz eine repräsentative Online-Befragung unter Ergo- und Physiotherapeut*innen durch, um die Verallgemeinerbarkeit der Typik herauszufinden. Denn nur unter dieser Voraussetzung ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz sinnvoll.

„Klar ist: Unser Projekt war nur ein Modellversuch, der an bestimmten Fällen zeigte, wie der Einsatz von KI aussehen könnte, um den Therapeut*innen das Leben zu erleichtern und die Datengrundlage der Behandlung zu verbessern“, resümiert Pfadenhauer. „Gibt es typische Lösungen für typische Fälle, dann sind Computer toll. Wir erleben aber eher, dass jeder Fall sich von jedem anderen unterscheidet: Manchmal sind biografische Informationen wichtig, manchmal irrelevant, manchmal hat das Wissen um Vorerkrankungen großen Einfluss auf den Behandlungserfolg und manchmal eben nicht.“ Das Krankenhaus-Informationssystem hält die notwendigen Berichte zwar bereit, aber die Anforderung an die Künstliche Intelligenz wäre, das jeweils spezifisch Relevante herauszufiltern und visuell aufzubereiten – „und da stecken wir noch immer in den Kinderschuhen“, stellt Schlembach fest. Im Projekt haben sich die Informatiker*innen vom Know-Center in Graz Möglichkeiten der Datenextraktion mittels Natural Language Processing (NLP) Methoden angesehen und dazu einmal ganz grundlegende Komponenten wie ein Abkürzungslexikon erstellt sowie medizinischen Wörterbücher herangezogen, um die Patientendaten letztlich in eine strukturierte Form zu bringen. Besonders Ärzt*innen verwenden in ihren Berichten viele Abkürzungen, die oft nicht standardisiert und manchmal mehrdeutig sind (HWI kann beispielsweise Harnwegsinfektion oder Hinterwandinfarkt heißen). Und wenn PDF-Dateien gar keine maschinelle Texterkennung ermöglichen, weil es sich um Scans handschriftlicher Einträge handelt, sind der Auswertbarkeit schnell Grenzen gesetzt.

Wenn du das bloß nicht immer mit deiner Saukralle eintragen würdest

Der Rahmen des Forschungsprojektes ermunterte die Therapeut*innen dazu, ihre eigene Praxis zu reflektieren. Sie begannen, sich über unhinterfragte Routinen und Abläufe Gedanken zu machen. „Lokale Probleme und Unzulänglichkeiten mit dem Krankenhaus-Informationssystem wurden häufig angesprochen, aber ebenso dessen Vorteile“, berichtet Schlembach. Diesem Schritt im Forschungsprozess war ein eigenes Arbeitspaket gewidmet. In Fokusgruppen erarbeitete und testeten die Projektpartner SYNYO Prototypen der Visualisierung. Diese Entwürfe wurden zuletzt in Gruppendiskussionen analysiert und beurteilt. „Doch diese Sessions dienten uns auch dazu, am Ende noch einmal die Frage zu stellen: Wo liegt das Kernproblem und wie können wir nützlich sein?“, erinnert sich Pfadenhauer. „Da saßen alle Berufsgruppen eines Krankenhauses am Tisch, und zwischendurch ging es schon ans Eingemachte: ‚Es würde mir das Leben wahnsinnig erleichtern, wenn du das nicht immer mit deiner Saukralle eintragen würdest.‘“ Diese Gruppendiskussionen, analysiert Schlembach, „sind ein Fremdereignis in der Organisation und ein ungewohnter Ort, um Bedürfnisse zu artikulieren.“ Die Forscher*innen sahen sich in diesen Settings immer wieder in der Rolle des Prozesskatalysators. Die Gruppendiskussionen machten greifbar, dass die Frage, wie behandlungsrelevantes Wissen in Krankenhausinformationssystemen dokumentiert und kommuniziert wird, in der Organisation und mit den Softwareherstellern ausgehandelt werden muss. Und sie bestätigten, was sich schon in den Beobachtungen zeigte: Auch digitale Kommunikationsprozesse sind in Organisationsabläufe eingebettet und die beste KI kann nicht unterstützen, wenn bestimmte Dokumente für die Therapeut*innen schlicht noch nicht zur Einsicht freigegeben wurden.

Das Projekt wurde im November 2021 beendet, und nun geht es an die Dissemination der Forschungsergebnisse im Wege von Publikationen. „Wir haben im Rahmen unseres Projekts einen Weg aufgezeigt“, erklärt Schlembach. „Nun wäre ein nächster Schritt zur experimentellen Entwicklung zweifellos sinnvoll.“ Doch hier sind die Forscher*innen mit strukturellen Förderproblemen in der FFG konfrontiert. Die Förderung von Entwicklungsprojekten, sagt Schlembach, ist nicht ganz einfach, weil solche Projekte anderen Förderquoten unterliegen und deswegen für Organisationen mit wenigen Eigenmitteln weniger attraktiv sind. Doch das ist eine andere Geschichte. (tg)

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: SMARAGD – Smart Aggregation and Visualisation of Health Data
  • Laufzeit: 06/2019–11/2021
  • Projektteam Universität Wien: Michaela Pfadenhauer (Leitung), Christopher Schlembach
  • Institut: Institut für Soziologie
  • Beteiligte und Partner*innen: IMC Fachhochschule Krems (Leitung des Projektkonsortiums: Mona Dür), SYNYO GmbH Wien, Karl-Franzens-Universität Graz, Johannes-Kepler-Universität Linz, Medizinische Universität Graz, Know-Center GmbH Graz
  • Finanzierung: Österreichische Forschungsförderungsgesellschaft (FFG), Ideen-Lab 4.0

 Projektvideo

Mona Dür, Leiterin des multidisziplinären Projektkonsortiums, erläutert die Ziele und Vorgehensweise im Rahmen von SMARAGD.