Eine leere Straße windet sich im Waldviertel durch weite grüne Felder vor einem Wald am Horizont.

© Yuri Kazepov

Stadt, Land, Verdruss? Wo man lebt, macht einen Unterschied!

Überblick

  • Das Forschungsprojekt „COHSMO“ erforscht in sieben EU-Ländern, inwieweit sich die Lebensqualität und der Ressourcenzugang vom Land über den suburbanen Raum zur Stadt hin unterscheiden und was dies für den sozialen Zusammenhalt bedeutet.
  • Die Ergebnisse legen nahe, dass der Ressourcenzugang zu Kinderbetreuung, Bildungsmöglichkeiten und Kulturangeboten je nach Sozialraum stark variiert und in Zusammenhang mit politischen Wahlergebnissen stehen dürfte.
  • „COHSMO“ setzt es sich zum Ziel, konkrete Handlungsempfehlungen für regionalpolitische Maßnahmen zu formulieren und einen Beitrag zu einem raumbasierten europäischen Sozialmodell zu leisten.

Ein gut ausgebautes öffentliches Verkehrsnetz, Kinderbetreuungsmöglichkeiten und ein vielfältiges Angebot an Bildungsangeboten – was in der Stadt selbstverständlich ist, wird auf dem Land schnell zur Mangelware. Was dieses Stadt-Land-Gefälle mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt macht und welche Maßnahmen bestehende räumliche Ungerechtigkeiten reduzieren könnten, erforscht Soziologe Yuri Kazepov mit seinem Team im Rahmen des Projekts „COHSMO“, gemeinsam mit Partnern aus sechs weiteren EU-Mitgliedstaaten. Das Veränderungspotenzial des Projekts schätzt er als eher „homöopathisch“ ein. Denn etwas zu verändern, sei als Akademiker keine Willensfrage, sondern oft eine strukturelle Unmöglichkeit.

Können Ihre Kinder unter drei Jahren in Ihrer Wohnumgebung in den Kindergarten gehen? Gibt es in Ihrer Nähe Ausbildungsmöglichkeiten in höheren Schulen, und wie lange brauchen Sie täglich, um Ihren Arbeitsplatz zu erreichen? Das Forschungsprojekt „COHSMO“ identifiziert bei der Beantwortung dieser Fragen vor allem zwei wesentliche Dimensionen des Unterschieds: in welchem Land die betreffende Person lebt und vor allem, ob sie auf dem Land, in der Stadt oder in einem Vorort zu Hause ist. „Es spielt für meine Lebensqualität gegenwärtig eine große Rolle, ob ich am Land wohne oder in der Stadt. Das gilt für die Länge meines Arbeitswegs genauso wie für die Frage, ob ich überhaupt arbeiten kann oder aufgrund fehlender Betreuungsangebote daheim bei meinem Kind bleiben muss“, so Yuri Kazepov. Dennoch berücksichtigen die wenigsten stadt- und regionalpolitischen Maßnahmen der EU-Länder den Faktor der territorialen Stadt-Land-Disparität. Das möchte „COSHMO“ ändern.

„Unser Projekt zielt darauf ab, die komplexen Wechselwirkungen von sozialpolitischen Maßnahmen, Verstädterung, zunehmenden sozialräumlichen Ungleichheiten und territorialem Zusammenhalt zu untersuchen und politische Empfehlungen in Bezug auf nachhaltiges Wirtschaftswachstum, räumliche Gerechtigkeit und demokratische Kapazitäten zu geben. Das Projekt hat es sich zudem zum Ziel gesetzt, ein raumbasiertes europäisches Sozialmodell zu entwickeln“, erklärt Tatjana Boczy. Gemeinsam mit Michael Friesenecker und Ruggero Cefalo vervollständigt sie das österreichische „COHSMO“-Team. „COHSMO“ ist ein von der EU im Rahmen von Horizon 2020 gefördertes Vergleichsprojekt mit Partnerinstitutionen in Italien, Dänemark, Großbritannien, Polen, Litauen und Griechenland.

Context matters!

„Mit Kontext meinen wir den territorialen Kontext. Nehmen wir mal unsere gegenwärtige politische Situation: Egal, ob wir nun von Deutschland, Großbritannien oder den Vereinigten Staaten sprechen, überall unterscheiden sich die Wahlergebnisse im urbanen Raum signifikant von jenen aus ländlichen Regionen. Donald Trump wurde vorwiegend von der Landbevölkerung gewählt und der Brexit hatte wenig Rückhalt bei der Stadtbevölkerung. Und auch unsere jetzige Regierung in Österreich wurde primär am Land bevorzugt“, so Kazepov. „Wir sehen hier einen direkten Zusammenhang mit der Frage, wie Solidarität zustande kommt – eine klassische Frage der Soziologie seit Émile Durkheim (1858–1917) vor mehr als 100 Jahren. Die Wahlergebnisse zeigen unterschiedliche Formen der Solidarität bzw. des gesellschaftlichen Zusammenhalts.“

„Zum Beispiel ist es wichtig zu berücksichtigen, inwieweit Menschen in unterschiedlichen geographischen Settings Vielfalt erleben und leben können. Kommt Solidarität zustande, weil wir ähnlich denken oder weil wir – trotz Unterschieden – zusammenleben und dies ein Wert an sich ist? Es ist eine offene Frage, die von vielen Faktoren beeinflusst werden kann. Eine wichtige Frage, die daran anschließt, ist, wie kann man die Faktoren dieser Solidaritätsmechanismen beeinflussen?“, erklärt der Soziologe. „Deswegen ist die Berücksichtigung regionaler Unterschiede so wichtig für die Konzeption politischer Maßnahmen.“ Diesem Zusammenhang von Lebensraum, politischen Maßnahmen und sozialem Zusammenhalt nähert sich „COHSMO“, indem es die strukturellen Gegebenheiten von drei Lebensräumen analysiert: urbanisierter Lebensraum (ab einer Million EinwohnerInnen), suburbaner Raum (ab 15.000 EinwohnerInnen) und ruraler Raum (unter 15.000 EinwohnerInnen). Zur Abgrenzung der Lebensräume dienen auch noch Faktoren wie Pendlerverflechtung und Wirtschaftsstruktur.

Unter der Lupe: Wien, das Waldviertler Kernland und die Kleinregion Ebreichsdorf

In die österreichische Stichprobe der Lebensräume schafften es die Stadt Wien, zehn Gemeinden der Kleinregion Ebreichsdorf (NÖ) mit ca. 36.000 EinwohnerInnen und 14 Gemeinden der Kleinregion Waldviertler Kernland mit knapp 14.000 EinwohnerInnen. „Diese drei Lebensräume unterscheiden sich sehr, sei es anhand der EinwohnerInnenzahl, des Wirtschaftswachstums oder anhand des kulturellen Angebots“, erklärt Michael Friesenecker. „Während der suburbane Raum von PendlerInnen geprägt ist, wird der hier ausgewählte rurale Raum oft von Bevölkerungsabwanderung dominiert und ist wirtschaftlich eher schlechter gestellt. Gleichzeitig herrscht im urbanen und suburbanen Raum meist ein Bevölkerungszuwachs.“

Mithilfe eines Methodenmixes wird erforscht, inwieweit politische Maßnahmen und Strategien die demographischen, ökonomischen und institutionellen Herausforderungen und Stärken der jeweiligen Lebensräume aufgreifen. Dazu werden qualitative Interviews mit AkteurInnen aus Politik und Verwaltung, Unternehmen sowie lokalen Initiativen geführt. Dabei werden auch (politische) Netzwerke und die Einbindung der BürgerInnen in die Formulierung politischer Maßnahmen untersucht. „Wir führen über 70 qualitative Interviews, in denen wir nicht nur erfragen, inwieweit regionale Maßnahmen wirklich auf die EinwohnerInnen eingehen, sondern genauso, ob die bestehenden Angebote auch genutzt werden“, erklärt Tatjana Boczy. Wobei eine vertiefende Diskursanalyse lokaler, politischer Strategien die Ergebnisse der Interviews anreichert. Zusätzlich wird eine komplementäre statistische Analyse der Versorgungssituation und -qualität der Lebensräume mit Kinderbetreuungsangeboten, Arbeitsmarktmaßnahmen und Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten durchgeführt, um die Möglichkeiten, die sich den BewohnerInnen bieten, möglichst umfassend darzustellen.

Der Begriff Rabenmutter existiert nur in der deutschen Sprache

Erste Ergebnisse unterstützen die Annahmen der ForscherInnen: Die Lebensqualität und der Zugang zu Ressourcen unterscheiden sich je nach Region wesentlich. Dennoch ist der Zugang zu Ressourcen nicht alles – denn nur, weil ein Zugang zu einer Ressource besteht, wird diese nicht automatisch angenommen. Hier spielen Kultur, individuelle Fähigkeit und der Wille, ein Angebot anzunehmen, eine Rolle. „Österreich und Dänemark haben in Hinsicht auf Ressourcenbereitstellung ein recht ähnliches Profil – dennoch nehmen die DänInnen zum Beispiel Angebote zur Kinderbetreuung viel öfter in Anspruch als ÖsterreicherInnen. In Niederösterreich nehmen etwa nur 23,5 Prozent der Eltern eine Betreuung für ihr Kind vor dem dritten Lebensjahr in Anspruch. In Dänemark dagegen arbeiten fast alle Elternteile nach viel kürzeren Karenzpausen“, erklärt Kazepov. „Hier ist es natürlich fraglich, ob ein höheres Angebot automatisch zu einem höheren Anteil arbeitender Mütter führt, denn in Österreich ist die traditionelle Geschlechterrollenverteilung sehr ausgeprägt. Den Begriff ‚Rabenmutter‘ gibt es auch nur im deutschsprachigen Raum.“

Dennoch ist die Empfehlung klar: PolitikerInnen, vor allem LokalpolitikerInnen, muss bewusst werden, dass territoriale Unterschiede einen großen Einfluss auf die Lebensrealitäten und den Zusammenhalt der Menschen haben, was sich im Umgang miteinander bemerkbar macht, sich aber genauso in Form von Wahlergebnissen, Arbeitslosigkeit und Abwanderung manifestiert. „Und diese Unterschiede lassen sich ändern! Dafür braucht es aber regionalspezifische Politik: Ich kann nicht einfach das Erfolgsmodell einer Stadt in den ländlichen Raum übertragen“, so Kazepov.

Interdisziplinarität als Herausforderung

Auch innerhalb des großen Projektteams gilt es, Herausforderungen zu überwinden. „Wir kommen alle aus unterschiedlichen Disziplinen, sind also sehr interdisziplinär. Super, sagt der Akademiker in mir. Nun müssen wir uns aber dennoch methodologisch auf ein wasserfestes Forschungsdesign einigen – da haben GeographInnen, PolitikwissenschafterInnen und SoziologInnen nun mal oft unterschiedliche Auffassungen und Zugänge“, so der Soziologe. „Allein ein gemeinsames Vokabular zu entwickeln, ist nicht selbstverständlich, da braucht es viel Projektkommunikation – nicht immer einfach, wenn man über sieben Länder verstreut ist.“

An die 30 Personen sitzen mit Papieren und Laptops um Tische in U-Form. Neben etwas Tageslicht aus den kleinen Fenstern spenden große Neonröhrenlampen Licht.

Meeting in Warschau zur Erarbeitung von Guidelines für die empirischen Fallstudien. © Yuri Kazepov

„Stimmt“, fügt Ruggero Cefalo hinzu. „Wir haben an einem Interviewleitfaden gearbeitet, den ein Kollege aus einer anderen Disziplin in einem anderen Land verfasst hat. Von uns sind nun fünf Seiten voller Kommentare retour gegangen, und das alleine vom Team eines Landes von insgesamt sieben.“ Die Situation von „COHSMO“ zeigt also, dass die akademisch geforderten Leitbilder der Internationalität und Interdisziplinarität zwar ihre Berechtigung haben, gleichzeitig jedoch die eine oder andere Herausforderung mit sich bringen.

Wir sehen unseren Impact als homöopathisch

Kazepov und seinem Team ist es ein großes Anliegen, dass die Forschungsergebnisse direkt dorthin gelangen, wo sie etwas verändern können. Gerade deswegen sieht der Soziologe seinen Impact kritisch: „Natürlich tun wir alles, was in unserer Macht steht, verfassen Newsletter und ein Handbuch, organisieren Diskussionsrunden mit PolitikerInnen und anderen InteressensvertreterInnen und diskutieren unsere Ergebnisse. Dennoch ist Impact keine Willensfrage, sondern eine strukturelle Herausforderung: Politik denkt kurzfristig, Universität denkt langfristig, Gesellschaft denkt sogar noch langfristiger – diese Prioritätsunterschiede wirken sich klar auf den Impact aus. Deswegen sage ich im Scherz, dass unser Impact eher homöopathisch ist – also eher klein. Natürlich erreichen wir kleine Bewusstseinsveränderungen und schaffen Dialoge und Netzwerke. Aber wäre es möglich gewesen, KommunalpolitikerInnen, Stadtverwaltung und öffentliche NGOs schon bei der Formulierung der Forschungsfragen zu involvieren, wäre unser Impact größer, denn dann könnten unterschiedliche Sichtweisen gleich mit ins Projekt einfließen“, so der Forscher.

Veränderungspotenzial: Stakeholder müssen EntscheiderInnen sein!

Das ist einfacher gesagt als getan, denn meist haben nichtakademische AkteurInnen gar nicht die Ressourcen, bei solchen Projekten mitzuarbeiten – zu Meetings zu kommen, in ein anderes Land zu reisen oder auch nur Dokumente zu erstellen. „So hätten auch BürgermeisterInnen von kleineren Gemeinden gerne eine aktivere Rolle im Projekt eingenommen. Bei der Stadt Wien wurde uns wiederum gesagt, dass interne Regelungen es verbieten, Personal mit Projektgeldern zu bezahlen“, fügt Kazepov hinzu. „Es gibt also strukturelle Hürden, die schon vorab verhindern, dass sich ein hohes Veränderungspotenzial ergeben kann.“

An genau dieser Hürde scheiterte das Team schon einmal: „Wir haben vor Kurzem versucht, die Stadt Wien für ein Projekt über Flüchtlinge zu gewinnen. Wir sind genau an dieser Regelung gescheitert! Die Institutionen, aus denen die Stakeholder stammen, müssen dem Personal eine Teilnahme auch ermöglichen – nur so kann wirklich gemeinsam geforscht werden. Und – das wird oft vergessen – es müssen EntscheiderInnen sein, die die Erkenntnisse auch umsetzen können. Leider stehen uns da bestimmte Strukturen ab und zu ein wenig im Weg.“

Die Politik ist nun am Zug …

Trotz der bestehenden Schwierigkeiten gibt es auch einige Lichtblicke: „Es ist viel im Umbruch, die Universität hat die Problematik erkannt und macht bereits wichtige Schritte. Die Politik ist nun in Zugzwang, hier können wir z.B. von den Niederlanden lernen. Dort wird viel stärker forschungs- und evidenzbasierte Politik betrieben, während Forschungsergebnisse bei uns oder auch in Italien schnell politisiert werden. Sozialwissenschaftliche Forschung setzt auch immer öfter auf Aktionsforschung. Das ist ein Ansatz, der Veränderung schon im Design mitdenkt. Gäbe es gegenseitiges Interesse, hätten wir eine deutlich größere Chance, als Gesellschaft weiterzukommen“, unterstreicht der Forscher. Sollten die finanziellen Mittel dann geklärt sein, so ließe sich konkret viel erreichen: partizipativ, methodisch und wissenschaftlich fundiert.

„In einem unserer Projekte, ‚Young Adulllt‘, ist es uns gelungen, im Scientific Advisory Board 15 Nicht-AkademikerInnen dabei zu haben, von der Arbeiterkammer über das Arbeitsmarkservice bis zum Bereich der außeruniversitären Bildung“, so Kazepov. „Wir sind eindeutig auf dem richtigen Weg.“ (il)

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: „COHSMO – Inequality, Urbanization and Territorial Chohesion. Developing the European Social Model of Economic Growth and Democratic Capacity“
  • Laufzeit: 1.5.2017 – 30.4.2021
  • Beteiligte: Tatjana Boczy, Michael Friesenecker, Ruggero Cefalo, Yuri Kazepov (Leitung)
  • Institut: Institut für Soziologie
  • Finanzierung: Europäische Union – Horizon 2020
  • PartnerInnen und Kooperationen: Aalborg Universitet, Dänemark | University of the West of England, Bristol, Großbritannien | Harokopio University, Griechenland | Uniwersytet Warszawski, Polen | Politecnico di Milano, Italien | Vytauto Didziojo Universitetas, Litauen

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