Blick auf die Bahnsteige des Wiener Hbf

© Wikimedia, ÖBB399 / CC BY-SA 3.0

Zwischen Braindrain und sozialem Abstieg

Überblick

  • Im Projekt „TRANSWEL“ wird die Portabilität sozialer Rechte zwischen vier Länderpaaren aus sozialwissenschaftlicher Perspektive verglichen: Ungarn und Österreich, Bulgarien und Deutschland, Polen und Großbritannien, Estland und Schweden.
  • Das internationale Projektteam (Leitung des Österreichteiles: Elisabeth Scheibelhofer) forscht in unterschiedlichen Projektabschnitten seit 2015 sowohl qualitativ als auch quantitativ.
  • Erhoben werden sowohl die aktuellen rechtlichen und institutionellen Perspektiven von Policy Expert*innen als auch die von Migrant*innen und ihren Angehörigen.

EU-Bürger*innen haben die Freiheit, in einem anderen Land zu arbeiten und zu leben, ohne Diskriminierungen ausgesetzt zu sein. Unter bestimmten Voraussetzungen können sie ihre Ansprüche auf Sozialleistungen von einem in ein anderes EU-Mitgliedsland exportieren, doch: Wie sieht die Lebensrealität jener Menschen aus, die auf vielfältige Weise von diesen europäischen Rechten Gebrauch machen? Soziolog*innen der Universität Wien erforschen, inwiefern das Recht auf Zugang und Portabilität von Sozialleistungen innerhalb der Europäischen Union tatsächlich geltend gemacht wird.

Grundsätzlich haben EU-Bürger*innen Zugang zu den Wohlfahrtsstaaten innerhalb der EU, in denen sie arbeiten bzw. leben, also etwa Anspruch auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Soweit zumindest die rechtliche Lage; in komplexeren Fällen stoßen Ämter und Behörden an ihre Grenzen – und nicht nur sie. Für Betroffene ist es regelmäßig schwierig, sich über die ihnen zustehenden Sozialleistungen adäquat zu informieren.

In der Praxis stehen Migrant*innen vor einer Vielzahl von Hürden. Der Zugang zu Sozialleistungen ist ihnen oftmals nicht möglich.

Dorina* lebt schon lange in Wien. Sie zog für ein Studium der Kunstgeschichte aus ihrer ungarischen Heimat nach Österreich. Nach dem Abschluss fand sie – wie viele andere auch – nicht sofort eine fachspezifische Anstellung und nahm vorerst einen Bürojob in einer prestigeträchtigen Firma an. Nach zwei Jahren stieg sie in diesem Job ins mittlere Management auf, doch ihre Interessen liegen woanders. Daher entscheidet sie sich, erneut auf Jobsuche im Kultursektor zu gehen und zieht auch den deutschen Arbeitsmarkt in Betracht. Hätte Dorina Anspruch auf österreichische Sozialleistungen, während sie eine Stelle in Deutschland sucht? „In der Theorie ganz klar ja“, meint ein Forscherinnen-Team der Universität Wien: „In der Praxis stehen Migrant*innen jedoch vor einer Vielzahl an Hürden. Der Zugang zu Sozialleistungen ist ihnen oftmals nicht möglich.“

Ein mehrköpfiges Team, zu dem u.a. Noémi Bakonyi, Clara Holzinger, Nora Regös und Elisabeth Scheibelhofer von der Fakultät für Sozialwissenschaften gehören, untersucht in dem aktuellen Projekt „TRANSWEL“, wie Bürger*innen aus sog. „neuen“ EU-Mitgliedsländern ihre soziale Sicherheit in „alten“ Mitgliedsländern organisieren und sich dabei auf europäische Regulierungen bezüglich der Koordination der nationalen Sozialsysteme stützen.

Dorina ist kein Einzelfall.

Dorina, Protagonistin aus dem erwähnten Beispiel, wurde von den Behörden zunächst verweigert, ihre Arbeitslosenunterstützung in ein anderes EU-Land zu exportieren. Erst durch die Intervention der Forscherinnen erhielt die junge Ungarin die Unterstützung, die ihr nach zweijähriger Berufstätigkeit in Österreich auch bei der Arbeitssuche in einem anderen EU-Land zustand. „Dorina ist aber kein Einzelfall“, bedauert Sozialwissenschafterin Clara Holzinger. Inwiefern das Portabilitätsprinzip im Alltag mobiler EU-BürgerInnen tatsächlich umgesetzt wird, ist eine der zentralen Fragestellungen von „TRANSWEL“.

Soziale Sicherheit von Migrant*innen unter der Lupe

Um Antworten zu finden, konzentrieren sich die international aufgestellten Forscher*innen auf vier Länderpaare, anhand derer sie die soziale Sicherheit von Migrant*innen in den Bereichen Arbeitslosigkeit, Familienleistungen, Pensionen und Gesundheit unter die Lupe nehmen: Ungarn und Österreich, Bulgarien und Deutschland, Polen und Großbritannien, Estland und Schweden. Zum Brennglas wird der präzis geplante Einsatz qualitativer und quantitativer sozialwissenschaftlicher Methoden, um unterschiedliche Facetten der Fragestellung zu beleuchten: Anhand von Literaturrecherche (primär kommen juristische Texte zum Einsatz), quantitativen und qualitativen Befragungen, Expert*inneninterviews sowie teilnehmenden Beobachtungen – beispielsweise bei behördlichen Terminen von Migrant*innen – erheben sie verschiedene Perspektiven auf das Thema.

Mit diesem länderübergreifenden, komparatistischen Ansatz betritt das Team nahezu unerforschtes Neuland: „Es gibt nur wenige sozialwissenschaftliche Studien, auf die wir aufbauen können. Die Portabilität von Sozialrechten aus Sicht der Betroffenen ist bis dato noch kaum untersucht worden“, so Elisabeth Scheibelhofer.

Es hat sich gezeigt, dass mobile EU-Bürger*innen häufig keine Sozialleistungen beziehen, obwohl sie ein Anrecht darauf hätten.

Nach fast drei Jahren intensiver Forschungsarbeit ist es Zeit für eine Zwischenbilanz: „Es hat sich gezeigt, dass EU-Bürger*innen in anderen EU-Ländern immer wieder mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert sind und so häufig keine Sozialleistungen beziehen, obwohl sie ein Anrecht darauf hätten. Manchmal ist es die Scham, die sie davon abhält, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen – und in vielen Fällen wissen sie gar nicht, dass sie finanzielle Unterstützung beantragen könnten.“

Migrant*innen brauchen einen hohen Grad an Kompetenz, um Unterlagen, Bescheide etc. zu organisieren – und das in einer Sprache, die vielleicht nicht ihre Erstsprache ist. Dazu kommt, dass die Implementierung der juristischen Grundlage oft nicht reibungslos funktioniert: Relevante Informationen sind kaum niederschwellig verfügbar und in Beratungsgesprächen werden falsche Informationen gegeben, teilweise sogar konträre. Dahinter stecken nicht zwangsläufig böse Absichten, oftmals fehlt es an Schulungen der Sachbearbeiter*innen und an mangelnder institutioneller Kommunikation zwischen den Ländern, berichten die Forscherinnen. Auch die Einsparungen bei diversen sozialstaatlichen Institutionen erschwert die Kommunikation zwischen allen beteiligten Akteur*innen.

Österreich – Ungarn: Die Entfernungen sind nicht sehr groß, aber die Lebens- und Einkommensunterschiede sind immens.

Das Forscherinnen-Team der Universität Wien untersucht die Portabilität von Sozialleistungen für das Länderpaar Österreich – Ungarn. „Wir sehen uns damit einen erweiterten Grenzraum an, wenn es danach geht, wie mobil die Menschen über die Ländergrenze hinweg sind. Die Entfernungen sind nicht sehr groß, aber die Lebens- und Einkommensunterschiede sind immens. Wir haben es nicht nur mit ‚typischen‘ Migrant*innen zu tun, die nur einmal in ihrem Leben migrieren, sondern erleben unterschiedlichste Formen von Mobilität“, berichtet Clara Holzinger.

Der Grundkonsens über die Solidargemeinschaft wird durch Migration in Frage gestellt.

Die befragten ungarischen Expert*innen befürchteten oftmals, dass die jungen, gut ausgebildeten Arbeitskräfte das Land verlassen, gehen also von einem Braindrain aus. In den Interviews mit österreichischen Teilnehmer*innen hingegen wurde die Angst vor angeblichem Sozialtourismus hervorgehoben: „Generell wird Mobilität positiv betrachtet, teilweise wird sogar bedauert, dass es keinen europäischen Arbeitsmarkt gibt, wie er beispielsweise in den USA zu finden ist“, erklärt Elisabeth Scheibelhofer: „Der damit verknüpfte Anspruch auf Sozialleistungen für Migrant*innen wird jedoch zunehmend von mehreren politischen Parteien problematisiert, um nationalistische Motive zu bedienen. Der Grundkonsens über eine nationale Solidargemeinschaft wird durch Migration jedenfalls momentan in Frage gestellt – und dies spüren auch Migrant*innen wie etwa interviewte Pol*innen in Großbritannien.“

„Auffällig ist, dass weniger gut ausgebildete Ungar*innen, die im Ausland nach Arbeit suchen, von ungarischen Expert*innen nicht thematisiert wurden. Dieselbe Personengruppe wurde von den in Österreich interviewten Expert*innen sowie im medialen und politischen Diskurs oft als ‚Gefahr‘ für den Sozialstaat dargestellt“, resümiert Clara Holzinger und fügt hinzu: „Die Interviews wurden zu einem Zeitpunkt durchgeführt, als Krisen stark in den Medien thematisiert wurden.“

Migrant*innen befinden sich in einem Labyrinth.

„Die Europäische Union soll zusammenwachsen“, „Europäische Integration ist eines der höchsten Güter“ – so hört man es in politischen Sonntagsreden. Dass die praktische Umsetzung dieser Leitideen im Leben der Menschen nicht immer funktioniert, zeigen die Forschungsergebnisse von „TRANSWEL“. Den Wissenschafter*innen ist daran gelegen, ihre Erkenntnisse zur Portabilität von Sozialrechten nach außen zu kommunizieren und so in die Gesellschaft einzuwirken: Sie verfassen Policy Briefs, veranstalten Vortragsreihen, geben Interviews und die Leiterin des britischen Teilprojekts, Emma Carmel, war bereits zu Gast im Europäischen Parlament, um über das Projekt zu berichten.

Mittlerweile liegen die Ergebnisse der qualitativen Interviews von allen Länderpaaren vor. Momentan schreibt das internationale Team ein wissenschaftliches Buch, das 2019 erscheinen wird. „Für die ländervergleichende Analyse werden wir auf die Metapher des Labyrinths zurückgreifen. Das System des Labyrinths ist kein geradliniger Wegweiser – für die Migrant*innen sind die bürokratischen Wege zu Sozialleistungen also hürdenreich und komplex“, so viel kann Noémi Bakonyi schon jetzt verraten. (il)


*Name von den Forscherinnen geändert

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: “Mobile Welfare in a Transnational Europe: An Analysis of Portability Regimes of Social Security Rights” (TRANSWEL)
  • Laufzeit: Februar 2015 – Juli 2018
  • Projektteam: Elisabeth Scheibelhofer, Nora Regös, Clara Holzinger, Noémi Bakonyi – Universität Wien, Österreich | Emma Carmel, Kinga Papiez, Bozena Sojka – University of Bath, Großbritannien | Anna Amelina, Jana Fingarova – Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg, Deutschland | Ann Runfors, Florence Fröhlig, Maarja Saar – Södertörn University, Schweden
  • Institut: Institut für Soziologie
  • Finanzierung: New Opportunities for Research Funding Agency Cooperation in Europe (NORFACE)

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