Geflüchtet nach Europa – und nun?
Überblick
- SIforREF unterstützt städtische Organisationen sowie zivilgesellschaftliche Initiativen dabei, Geflüchtete in Gesellschaft und Arbeitsmarkt zu integrieren
- In sechs zentraleuropäischen Städten – Bologna, Parma, Venedig, Berlin, Ljubljana und Wien – untersuchte und evaluierte SIforREF sozial innovative Integrationsprojekte
- Stadtverwaltungen, Sozialarbeiter*innen und Menschen mit Fluchtbiografie aus der ganzen Welt zeigen, wie Integrationsprojekte gelingen können
Was passiert bei „Volunteers for Volunteers“ in Wien? Was ist das „Wonderful House“ in Parma? Das transnationale Forschungsprojekt SIforREF untersuchte sozial innovative Integrationsprojekte in sechs mitteleuropäischen Städten. Die akademischen Institutionen arbeiteten dabei eng mit Stadtregierungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammen, und begleiteten und evaluierten diese Projekte.
Bei Interreg geht es nicht nur um Forschung: es geht in erster Linie um die regionale Zusammenarbeit und kooperative Entwicklung in Zentraleuropa. Sozialpolitische Projekte, so genannte „pilot actions“, die bottom up geplant und durchgeführt werden, werden im Rahmen von Interreg analysiert, die Wissenschafter*innen arbeiten daher direkt mit Praktiker*innen in den Gemeinden zusammen. Bei Integrating Refugees in Society and Labour Market through Social Innovation (SIforREF) etwa waren neben der Universität Wien auch die Wiener Magistratsabteilung 17 für Integration und Diversität als Advisory Board Mitglied sowie Nichtregierungsorganisationen wie die Caritas Wien als Praxispartnerin beteiligt. Über einen Zeitraum von drei Jahren – 2019 bis 2022 – wurden dabei soziale Innovationsprojekte zur Eingliederung von Geflüchteten in Gesellschaft und Arbeitsmarkt des Ziellandes begleitet und evaluiert.
Im „Volunteers for Volunteers“ Projekt möchte die Caritas Wien das Peer-Learning zwischen den Neuankommenden in Wien fördern, und dabei Empowerment und soziale Inklusion ermöglichen. Begegnungen wie “Community Cooking“ haben sich bewährt, das konnten auch die Forscher*innen der Uni Wien bestätigen. So konnte die Barriere zwischen dem beobachtenden Forscherteam und den Beforschten – den Menschen mit Fluchtgeschichte ebenso wie Mitarbeiter*innen lokaler Stakeholder aus dem Integrationsbereich – spielerisch abgebaut, Vertrauen hergestellt und eine gute Gesprächsbasis geschaffen werden. „Wichtig war, salopp gesagt, wer am besten Karotten schneiden kann und nicht, wer hier von welcher Institution mit welchem Ziel kommt“, so Yvonne Franz vom Institut für Geographie und Regionalforschung.
Wir tragen dazu bei, die Probleme besser zu verstehen
„Wir haben nicht den Anspruch, Probleme zu lösen – aber wir tragen dazu bei, die Probleme besser zu verstehen“, erläutert Yuri Kazepov vom Institut für Soziologie. Er analysierte zusammen mit der Stadtgeografin Yvonne Franz und einem Team von Forscher*innen und Praxispartner*innen das Fallbeispiel Wien. „Zwar lösten wir als Wissenschafter*innen nicht direkt die Probleme, die wir beleuchteten. Aber wir schufen zusätzliches Wissen über Migration und vermittelten dieses an unterschiedliche Zielgruppen. Das ist für die Gesellschaft wichtig, damit populistische Hypothesen, die Angst schüren und Fluchtmigration als Gefährdung für den Wohlstand betrachten, keine Chance haben. Zusätzlich zu diesem Wissen braucht es auch mehr Solidarität – aber Solidarität geht nur dann, wenn einzelne soziale Gruppen keine Angst vor Wohlstandsverlust haben,“ so Kazepov.
Methodologisch offen, theoretisch nicht fixiert
Geforscht wurde mit unterschiedlichen Methoden, mit starkem Fokus auf partizipative Zugänge und ko-kreative Ansätze wie walking interviews. „Wir erarbeiteten unter anderem im Wiener Prater eine Route zu Spuren der Migration, sind mit Praktiker*innen, die im Fluchtkontext arbeiten, an diese Orte gegangen und diskutierten mit ihnen unter anderem zu Arbeitsmarktzugang oder auch informelle Erwerbstätigkeit wie Prostitution“, erläutert Yvonne Franz. Die Forscher*innen waren während der gesamten Projektlaufzeit direkt vor Ort in den Pilotprojekten dabei, führten qualitative Interviews mit Stakeholdern (Akteur*innen im Bereich Integration) sowie Geflüchteten, und moderierten Ko-Kreations-Workshops. „In diesen Workshops wurden beispielsweise wissenschaftliche Ergebnisse zur Integrationspolitik gemeinsam in einfacher Sprache formuliert, um Wissenschaft für unterschiedliche Stakeholder zugänglicher zu machen“, führt Franz aus. Zusätzlich dazu wurde mittels Dokumentenanalyse und statistischer Datenerhebung wissenschaftlich begleitet. „Wir sind methodologisch sehr offen und theoretisch nicht fixiert – wir sind kritische Sozialforscher*innen, und unser komplexes Forschungsthema braucht komplexe, vielschichtige Lösungen,“ so Kazepov zum Vorgehen der Wissenschafter*innen.
Die Forschungsmethode der teilnehmenden Beobachtung war mitunter schwierig, denn die Menschen, um die es hier ging, sind in einer prekären Lage. Zudem fand der Großteil der Feldarbeit während der Covid19-Pandemie mit diversen Lockdowns statt. Es lag daher in der Verantwortung der Forscher*innen, keine zu hohen Erwartungen oder Wünsche zu generieren. „Wir erklärten den Menschen, dass wir den Status Quo erheben wollen, aber individuelle Probleme nicht direkt gelöst werden können. Wir können nicht sagen: ‚Hier ist der Aufenthaltstitel und hier der passende Traumjob‘,“ erläutert Yvonne Franz.
Soziale Innovationen im Kontext verstehen
„Normalerweise wird unter sozialer Innovation etwas verstanden, was von den grassroots, also von unten kommt. Welche Akteur*innen gibt es, welche Probleme, und wie lösen wir die?“, erklärt Yuri Kazepov. „In unserem Projekt ist klargeworden – und das ist ein interessantes Ergebnis des Projekts – dass das alles nicht so einfach ist.“
Die sozioökonomische Lage in jeder Stadt ist eine andere, die soziodemographische ebenso. Es ist ein Unterschied, ob es 30 Geflüchtete in einer Stadt gibt, oder ob wie in Wien beinahe die Hälfte der Bevölkerung Migrationshintergrund hat. Auch wie Institutionen funktionieren, welche Rechte Asylwerber*innen und Asylberechtigte haben, und wie Ressourcen verteilt werden ist in jeder dieser Städte unterschiedlich. Die Projekte in den verschiedenen Städten sollten im Rahmen von SIforREF jedoch verglichen werden, um im besten Fall daraus zu lernen und das jeweilige Projekt auch woanders umsetzen zu können. „Diese Vergleichbarkeit ist einer der Schwachpunkte des Projektes, und birgt gleichzeitig die spannendsten Erkenntnisse darüber, wie komplex die Projekte und Strukturen in den unterschiedlichen Städten sind“, so Kazepov.
Es ging bei der Bewertung der sozialen Innovationen also nicht nur um die Idee von unten: „Die Idee interagierte mit den Gegebenheiten und Kontextbedingungen. Erst aus dieser Verbindung heraus entstanden soziale Innovationen, die dann auch tatsächlich funktionierten. Das Projekt Volunteers for Volunteers etwa funktioniert auch deshalb so gut, weil die Caritas Wien in Wien gut eingebettet ist, weil die Sozialarbeiter*innen der Caritas Wien top ausgebildet sind, weil es Ressourcen gibt, das Projekt auch von der Stadt Wien unterstützt wird, und so weiter“, erklärt Yuri Kazepov. In Parma, Ljubljana oder Bologna funktionieren demnach andere Initiativen – „etwa, weil die Sozialarbeiter*innen dort sehr engagiert sind, auch weil sie zum Teil gegen die Institutionen arbeiten müssen, und das mit viel weniger Ressourcen.“, gibt Kazepov zu verstehen. Das „Wonderful House“ in Parma etwa wurde von einem ehemals Geflüchteten selbst ins Leben gerufen und unterstützt zahlreiche Menschen mit Fluchtgeschichte dank des zivilgesellschaftlichen Engagements vieler.
Deutlich wurde durch den Vergleich im Rahmen des Interreg-Projektes auch, dass es hier nicht nur um Arbeitsmarktintegration geht, sondern vor allem um gesellschaftliche Teilhabe. „Neben einem Wohn-, Ausbildungs- und Arbeitsplatz braucht es auch andere Formen gesellschaftlicher Teilhabe – nämlich ein Mitbestimmungsrecht. Da tun wir uns schwer“, argumentiert Yuri Kazepov. „Denn die Städte Mitteleuropas diversifizieren sich immer mehr – und ein Drittel der Bevölkerung etwa Wiens ist gar nicht wahlberechtigt.“
Institutionelle Landschaftserhebung
„Auch in Wien und Berlin, beides deutschsprachige Hauptstädte, funktionieren Dinge anders“, so Yvonne Franz. In Wien gibt es zahlreiche gewachsene Institutionsgefüge, die aneinander andocken: etwa staatliche Förderungen, um geflüchtete Menschen in Mangelberufen wie der Gastronomie oder Pflege unterbringen zu können. In Berlin hingegen werden gerade aufgrund des Fachkräftemangels in der IT speziell Frauen mit Fluchtbiografie trainiert, um sich danach selbstständig machen zu können, was einen großen kulturellen Unterschied ausmacht. In Parma und Bologna wiederum gibt es kaum zuverlässige Strukturen und kaum Budget für die Integration von Migrant*innen, dafür aber ein sehr großes zivilgesellschaftliches Engagement. Dieses fängt den Mangel ab und schafft Raum für erstaunlich innovative Projekte. Und in Ljubljana wiederum gibt es zwar historisch Migrationsbewegungen, Slowenien ist jedoch ein Transferland, das heißt Geflüchtete wollen dort nicht bleiben, auch weil es dort für sie keine Unterstützungsleistungen gibt.
Während die Probleme in allen Ländern sehr ähnlich waren, wiesen die institutionellen Rahmenbedingungen und Gegebenheiten also sehr große Unterschiede auf. Ein großer Mehrwert der Forschung war die soziale und institutionelle Landschaftserhebung auch für die Akteur*innen selbst, denn diese wussten teils gar nicht, welches Angebot es in ihrem Bereich eigentlich gibt.
Unter welchen Bedingungen gelingen welche Integrationsprojekte?
Der Forschungsansatz von SIforREF ermöglichte es nun zu untersuchen, welche Integrationsprojekte unter welchen institutionellen Bedingungen schon gut funktionierten. Lag es an einzelnen Personen, dass etwas an einem bestimmten Ort sehr gut funktionierte? Spielten andere kontextuelle Bedingungen eine Rolle? Und könnte es anderswo auch funktionieren?
„Die Logik von Förderungen durch die Europäische Union ist hier nicht immer schlüssig, denn man versucht, ein Integrationsprojekt, das an einem Ort gut funktioniert hat, woanders 1:1 umzusetzen und wundert sich dann, dass das Ergebnis überall ein anderes ist“, so Yuri Kazepov. Das Problem sei zwar gleich, Kontexte und Institutionen aber unterschiedlich, daher seien auch die Lösungen unterschiedlich. Yuri Kazepov betont, wie wichtig es ist, hier (mehr) Klarheit zu schaffen: „Die Politik, die Forschung und die Institutionen haben unterschiedliche Geschwindigkeiten, das ist wichtig zu begreifen.“ Schließlich wurde mit sogenannten travelling concepts herausgearbeitet, welche Elemente wie transferierbar sein sollten, damit was hier funktioniert hat, auch dort funktionieren könnte.
Es braucht einen Konsens zu einer gemeinsamen, gelingenden Integrationspolitik
„‘Science to Public‘ wurde in diesem Projekt wirklich gelebt“, ist sich Yvonne Franz in Hinblick auf die Ergebnisvermittlung sicher. Denn kommuniziert wurde auf unterschiedlichen Ebenen. Die anwendungsorientierten Ergebnisse – etwa eine Tool Box um die Situation von Geflüchteten zu verbessern – waren ganz klar an die Praktiker*innen der NGOs in den diversen Städten gerichtet. Für Politiker*innen der Stadtregierungen und Verwaltungsmitarbeiter*innen wurden hingegen Guidelines und Best Practice-Beispiele erstellt. Neben Forscher*innen, Entscheidungsträger*innen und städtischen Verwaltungen waren aber auch Geflüchtete selbst Adressat*innen des Projekts, die durch die Sichtbarkeit und das generierte Wissen empowert werden sollten.
„Das Umsetzen von Best Practice-Beispielen aus anderen Ländern funktioniert so nicht immer. Es braucht auf jeden Fall einen starken politischen Willen. Wenn der nicht da ist, passiert überhaupt nichts,“ geben Yvonne Franz und Yuri Kazepov zu bedenken. Es brauche einen Konsens darüber, wie wir als Gesellschaft mit Geflüchteten umgehen wollen, und es brauche eine Beziehung zwischen Forschung und Politik, die gepflegt und entwickelt werden muss.
Ein erster Schritt in diese Richtung wurde im Rahmen von SIforREF durch ein abschließendes Memorandum of Understanding – also einer gemeinsamen Absichtserklärung – gesetzt. Dieses wurde vom Team der Wissenschaftler*innen erstellt und von allen Beteiligten aus Stadtregierungen, NGOs und Universitäten unterschrieben. Ob diese Absichtsbekundung jedoch mittel- oder langfristige Folgen in der Gesellschaft hat, bleibt kritisch abzuwarten, resümieren Franz und Kazepov: „Unterschrieben haben letztendlich zwar alle; die Forderungen umzusetzen ist jedoch eine politische Entscheidung, die für die Machthabenden nicht immer tragbar zu sein scheint.“ Das Forscher*innenteam an der Universität Wien hat nun die Chance, den politischen Umsetzungswillen zu begleiten: In dem gerade neu genehmigten dreijährigen Interreg Projekt „GEtCoheSive – Engaging Citizens to Improve Policies“ werden Partizipationsmöglichkeiten mit besonderem Fokus auf vulnerable Gruppen in Berlin, Bologna, Ljubljana, Parma und Wien analysiert und weiterentwickelt. Denn Wissenschaft und Praxis zeigen, dass soziale Gruppen wie junge Menschen, Geflüchtete, Obdachlose oder auch Personen mit Sorgeverpflichtungen bislang in Partizipationsprojekten unterrepräsentiert sind. Das soll sich künftig durch voneinander Lernen verbessern. (er)
Eckdaten zum Projekt
- Titel: SIforREF Integrating Refugees in Society and Labour Market through Social Innovation
- Laufzeit: 03/2019 – 04/2022
- Projektteam: Yuri Kazepov, Yvonne Franz, Elisabetta Mocca, Judith Schnelzer, Jonathan Schmidt, Richard Breitenfellner, Nicolas Pernhaupt
- Beteiligte und Partner*innen: Ca' Foscari University of Venice, Asp Città di Bologna, Commune di Parma, Caritas Wien, TU Berlin, ISI Initiative Selbstständiger Immigrantinnen e.V., Gmajna cultural association, Slovenian Migration Institute, Advocate of the Principe of Equality Slovenia, Die Beauftragte des Senats für Integration und Migration, Regione Emilia-Romagna
- Institut: Institut für Soziologie, Institut für Geographie und Regionalforschung
- Finanzierung: INTERREG Central Europe
SIforREF: Pilots Summary 2022 und Pilot Video Vienna
SIforREF Pilots Summary 2022
Pilot Video Vienna: Volunteers for Volunteers.