Nicht gesehen und nicht gehört: Familien und Eltern in der Corona-Pandemie

Überblick

  • Das Forschungsteam rund um die Familien- und Kindheitssoziologin Ulrike Zartler untersucht die Lebensumstände von Eltern und Familien während der Corona-Pandemie.
  • Seit der ersten Lockdownwoche im März 2020 werden 98 Eltern von Kindern im Schul- und Kindergartenalter regelmäßig im Rahmen einer qualitativen Längsschnittstudie befragt.
  • Das Team möchte den immensen Beitrag aufzeigen, den Eltern während der Pandemie für das Funktionieren der Gesellschaft leisten, und die Herausforderungen für Familien während der Pandemie sichtbar machen.

Vor eineinhalb Jahren, kurz nachdem die WHO die Epidemie zu einer Pandemie erklärt hatte, machte Österreich das erste Mal zu. Am 11. März 2020 wurde die Schließung der Schulen bekannt gegeben. Mit dem ersten Lockdown im März 2020 waren in Österreich mehr als 900.000 Familien und 1,6 Millionen Kinder völlig unvorbereitet mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Die Einschränkungen und Belastungen, die sich dadurch für Familien ergaben, untersucht die Soziologin Ulrike Zartler mit ihrem Team im Detail.

Zu Beginn der Pandemie war das mediale Interesse an der Situation der Familien groß. „Nachdem ich immer wieder von Medienvertreter*innen gefragt wurde, welche Studien es zum Thema globale gesundheitliche Krisen und Familien gibt und ich keine entsprechenden Daten gefunden habe, dachte ich, dann führe ich eben selbst eine Studie durch. Ich wollte erfahren, wie Familien diese Ausnahmesituation erleben“, erzählt die Familien- und Kindheitssoziologin Ulrike Zartler. Gemeinsam mit ihren Kolleginnen Vera Dafert und Sabine Harter begann sie unter außergewöhnlichen Umständen ein außergewöhnliches Projekt zu entwickeln: Corona und Familienleben (CoFam).

Die Corona-Pandemie hat sich nicht um die üblichen Abläufe in der Wissenschaft gekümmert

Darstellung zu Finanzierung, Erhebung und Forschungsdesign

Forschungsdesign, drittmittelfinanzierte Teilprojekte und Zeitverlauf von Lockdowns und Erhebungen. © CoFam

Der übliche Entstehungsprozess eines Forschungsprojektes war aufgrund der speziellen Situation keine Option. Zu lange würde es dauern, detaillierte Forschungsanträge zu verfassen, zu überarbeiten, einzureichen und die Antwort der potenziellen Fördergeber*innen abzuwarten – das dauert meist viele Monate. „Die Corona-Pandemie hat sich nicht um die üblichen Abläufe in der Wissenschaft gekümmert“, sagt Zartler lachend. Stattdessen startete das Team ohne Fördergelder:  Über einen breit gestreuten Aufruf ergab sich ein Sample mit 98 Eltern von Kindern im Schul- und Kindergartenalter. Das Sample spiegelt die Zusammensetzung der Gesellschaft sehr gut wider, es sind unterschiedliche Familienformen (Kernfamilien, Alleinerziehende und Familien mit Stiefkindern), Familien mit und ohne Migrationshintergrund, mit unterschiedlichem Bildungsstand und mit verschiedenen sozio-ökonomischen Hintergründen vertreten. Der Großteil der Mütter und Väter wurde zuerst wöchentlich und dann zweiwöchentlich bis zum Sommer 2020 telefonisch interviewt, ein kleinerer Teil führte Tagebuch. Danach wurden weitere Interviews in größeren Abständen geführt. „Wir wollten wissen, wie es den Familien in dieser belastenden Zeit geht, und das hat uns auch angetrieben“, erklärt Zartler. Inzwischen werden die Forschungsarbeiten von mehreren Stellen gefördert. Die MA 57 der Stadt Wien finanzierte eine Auswertung zur Situation von Frauen in Wien während der Corona-Pandemie, die Arbeiterkammer Wien ein Teilprojekt zu Corona und (Care-)Arbeit, und der FWF fördert das gesamte längsschnittlich angelegte Projekt mit Geldern aus dem Akutfördertopf SARS-CoV-2.

Die Eltern waren plötzlich gefordert, Homeschooling, Kinderbetreuung und Berufsarbeit gleichzeitig zu übernehmen. Das war eine sehr problematische Situation


Während man dem Team zuhört, wird spürbar, wie wichtig es ist, dass dieses Projekt trotz der widrigen Umstände gestartet wurde. So wird ein Schlaglicht auf die belastende Situation geworfen, in welcher sich Eltern und Kinder seit Beginn der Pandemie befinden. „Wir wollen das Verständnis dafür heben, in welcher Situation sich die Eltern befanden und immer noch befinden und welchen Beitrag sie geleistet haben, damit die Gesellschaft weiterhin funktioniert. Die Pandemie setzte Eltern einem enormen Druck aus. Sie mussten sich neben ihrer Erwerbsarbeit zusätzlich um Homeschooling und Kinderbetreuung kümmern. Zudem mussten Kinder informiert und getröstet, Spielpartner*innen ersetzt, Mahlzeiten vorbereitet, Wohnungen geputzt und aufgeräumt werden. Das alles musste zunächst sehr rasch und im Zeitverlauf unter stark veränderten Bedingungen geschehen, in einer Situation, die von vielen als bedrohlich wahrgenommen wurde“, erläutert Projektleiterin Ulrike Zartler. „Die Eltern waren gefordert, Homeschooling, Kinderbetreuung und Berufsarbeit gleichzeitig zu übernehmen. Das war eine sehr problematische Situation“, bringt es ihre Kollegin, die Soziologin Petra Dirnberger, auf den Punkt. „Die Herausforderungen für die Familien haben sich plötzlich vervielfacht. Gleichzeitig waren sie in dieser Stresssituation völlig auf sich allein gestellt und haben keine Unterstützung bekommen. Die Eltern haben irrsinnig viel geleistet und niemand hat es zur Kenntnis genommen“, führt Zartler weiter aus. „Hätten die Eltern nicht mitgespielt, hätte das gesellschaftliche Gefüge nicht mehr funktioniert.“ Durch einen Elternstreik beispielswese wären weite Teile des Erwerbslebens zum Erliegen gekommen, doch um solch einen zu organisieren, fehlten den meisten Eltern schlicht die Ressourcen und die Energie.

Die unsichtbare Kraft im Hintergrund

Wie haben Familien es überhaupt geschafft, diese Situation zu meistern? Sie waren sehr kreativ in der Entwicklung unterschiedlicher Strategien (z.B. klare Strukturierung des Tagesablaufs, Etablierung eines „Schichtbetriebs“ oder Durchführung von Erwerbsarbeitstätigkeiten zu Randzeiten). Schwierig waren nicht nur die Lockdown-Phasen, sondern auch die Öffnungsphasen: Regelungen für Schulbesuch und Kinderbetreuung waren vielfach unklar und uneinheitlich und lösten Chaos im Familienalltag aus. Ein Grund dafür, dass Familien diese Herausforderungen gut überstehen konnten, liegt in der Beschränkung eigener Bedürfnisse in Richtung einer Selbstoptimierung bis hin zur Selbstaufgabe. Dies ging und geht sehr weit und wird insbesondere bei Müttern beobachtet, was Zartler als besorgniserregendes Forschungsergebnis bewertet. Vielfach gaben Frauen ihre eigenen Bedürfnisse zu Beginn der Pandemie nahezu komplett auf und stellten die Bedürfnisse der Kinder und des Partners über lange Zeiten hinweg uneingeschränkt über die ihren. „Das geht bis hin zu körperlichen Grundbedürfnissen, die aufgegeben werden“, schildern die Forscherinnen. „Zu wenig schlafen, zu wenig oder sehr unregelmäßig essen – Mütter erzählten uns, sie kommen erst nachmittags dazu, selbst etwas zu essen, weil sie ab dem frühen Morgen die komplette Familie versorgen müssen, dann im Homeschooling eingesetzt sind und keine Zeit dafür finden, ihre eigenen Grundbedürfnisse zu stillen.“ Vielfach wurde auch in den weiteren Lockdown-Phasen auf diese Strategie zurückgegriffen, was zu steigender Erschöpfung führte.

Frauen bzw. Mütter trafen die Veränderungen im Pandemiealltag besonders hart, wie die Studie zeigt. Sie haben einen großen Teil der nun zusätzlich anfallenden Aufgaben übernommen. „Das ist sicherlich auch mit den Geschlechterrollen verbunden, die in Österreich nach wie vor sehr traditionell sind“, sagt Zartler. „Frauen sind auch in Nicht-Coronazeiten jene, die das Care-Management in Familien übernehmen.“ Dieser Bereich ist nun noch weiter angewachsen und wird, wie auch bisher, hauptsächlich von Müttern übernommen, wodurch sich die ohnehin bereits vorhandene Mehrfachbelastung noch steigert. „Frauen haben die Familienorganisationsaufgaben auch weiterhin übernommen, weil es einfach notwendig war, weil es irgendjemand machen musste. Sie waren die unsichtbare Kraft im Hintergrund, die kaum gesehen wurde“, fügt die Soziologin hinzu. Das Ergebnis dieses schon seit 20 Monaten andauernden „Ausnahme-Alltags“ sind Eltern, und insbesondere Mütter, die ausgelaugt und am Limit sind und oftmals schlicht nicht mehr können.

Neben dem Geschlecht wirkt sich auch der sozio-ökonomische Hintergrund auf den Belastungsgrad der Familien aus. „Am Anfang des ersten Lockdowns gab es das Narrativ vom Lockdown als Entschleunigung, als ‚Corona-Ferien‘, in denen Familien eine schöne Zeit miteinander verbringen können. Von manchen Familien wurde das tatsächlich so erlebt – allerdings nur von jenen, die sehr gute Rahmenbedingungen hatten – viel Platz, ausreichend Geld, keine existenziellen Sorgen, weniger und ältere Kinder“, schildert das Team. Für all jene, die Existenzängste und wenig Wohnraum haben, bildungsferner oder alleinerziehend sind, wurde die Zeit im Lockdown zu einer täglichen Zerreißprobe. Hinzu kamen Ängste um die Gesundheit aller Familienmitglieder und die Befürchtung von Bildungsnachteilen für die Kinder. Und selbst in der zuvor beschriebenen privilegierten Gruppe zeigte sich schon nach sehr kurzer Zeit ebenfalls eine stark ansteigende Belastung. Mittlerweile, nach wiederholten Lockdowns, werden zunehmend Gefühle von Verzweiflung und Resignation artikuliert.

Die Forscherinnen wissen, was sich die Eltern wünschen und was es nun bräuchte, um Familien aus dieser Krise zu führen: Einheitliche Konzepte für alle Bildungseinrichtungen, offene Schulen und funktionierende Kinderbetreuungseinrichtungen; Maßnahmen, die verhindern, dass die soziale Schere im Bildungssektor noch weiter auseinandergeht; finanzielle Unterstützung für ökonomisch schwache Familien sowie Maßnahmen, um die psychischen Belastungen von Eltern und Kindern so weit als möglich aufzufangen. „Ohne derartige Schritte werden die Auswirkungen für Familien noch dramatischer werden. Man sieht nach mittlerweile 20 Monaten sehr deutlich, welche Belastungen und Beeinträchtigungen durch die Krise bei Kindern, Jugendlichen und Eltern entstanden sind“, so die Soziologin. Es sei eine „soziale Pandemie“ zu befürchten, die uns noch wesentlich länger begleiten könnte als die virologische.

Die Geschichten, die wir hören, gehen uns emotional oft sehr nahe

So nahe an dieser belastenden Situation zu sein, ist für die Forscherinnen nicht immer leicht, insbesondere, da durch die Intensität der Interviews (bis zu 3 Stunden), die hohe Anzahl an Gesprächen und die kurzen Abstände zwischen den Interviews ein Vertrauensverhältnis entstanden ist. „Für uns war das schon auch ein stückweit eine Herausforderung. Wir mussten uns so gut es geht abgrenzen und haben versucht, das in Gesprächen mit dem Team zu verarbeiten. Die Gespräche mit den Eltern nehmen einen oft einfach stark mit und die Geschichten, die wir gehört haben, gehen uns emotional oft sehr nahe“, erzählt Petra Dirnberger. Jene Momente, in denen klar wurde, dass sich das Gegenüber in einem besonders schwierigen Zustand befindet, waren für die Interviewerinnen besonders herausfordernd. „Wir können keine Therapie ersetzen und keine Interventionen setzen, wenn wir beispielsweise merken, jemand gleitet in die Depression ab. In diesen Situationen können wir nur auf Stellen verweisen, an die man sich wenden kann, um Hilfe zu bekommen“, ergänzt Zartler.

Für Eltern war es wichtig zu sehen, dass die Sorgen, die sie sich machen, von anderen geteilt werden

Dass es in dieser schwierigen Situation ein Team von Forscherinnen gibt, welches sich für die Lebensumstände der Eltern, Familien und Kinder interessiert, ist für die interviewten Eltern eine wichtige und äußerst positive Erfahrung – dies erklärt auch die hohe Teilnahmebereitschaft der Befragten, in ungewöhnlicher Intensität und über einen langen Zeitraum. Die anfangs wöchentlich stattfindenden Gespräche gaben ihnen eine Möglichkeit zur Reflexion. Auch die mediale Berichterstattung über das Forschungsprojekt erreicht viele Eltern. Für sie ist es wichtig zu sehen, „dass sie mit ihren Erfahrungen nicht alleine sind. Dass auch andere Eltern erschöpft sind, dass sie überlegen, wie sich die Pandemie auf die Entwicklung ihrer Kinder auswirkt, oder sich Sorgen machen, dass ihr Kind Bildungsnachteile erfahren könnte. Ein zentraler Aspekt an diesem Projekt ist, dass die Rahmenbedingungen, unter denen Familien in der Corona-Pandemie leben, auch publik gemacht werden“, sagt Zartler. Für sie als Forscherin ist es besonders schön zu sehen, dass die Befragten es als sinnvoll erleben, über ihr Leben zu erzählen.

Abschließend weist die Soziologin noch auf einen weiteren Faktor hin, der das Projekt auch für die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung äußerst relevant macht: „Wir werden uns wahrscheinlich darauf einstellen müssen, auch in Zukunft mit ähnlichen gesundheitlichen Krisensituationen konfrontiert zu werden. Dafür ist es wichtig, gut fundiertes Wissen darüber zu haben, wie Menschen und Familien mit solchen Situationen umgehen, welche Schwierigkeiten sie erleben, und vor allem, was sie brauchen. Es ist essentiell für die Gesellschaft, dass Eltern auch in schwierigen Situationen für ihre Familien eine sichere Umgebung bieten können.“ (sbs)

Eckdaten zum Projekt

  • Titel: Corona und Familienleben (CoFam)
  • Laufzeit: 2020–2024
  • Projektteam: Ulrike Zartler (Projektleitung), Vera Dafert, Petra Dirnberger, Sabine Harter, Daniela Schimek
  • Institut: Institut für Soziologie
  • Finanzierung: Frauenservice der Stadt Wien (MA 57), Arbeiterkammer Wien, FWF – Der Wissenschaftsfonds.

 NACHGEFRAGT: "Welchen Wert hat Familie heute?"

Ulrike Zartler diskutiert mit ORF-Journalistin Simone Stribl darüber, welche Aufgaben Familien in unserer Gesellschaft übernehmen.

 

 Publikationen

  • Zartler, U., Dafert, V., & Dirnberger, P. (2021). What will the coronavirus do to our kids? Parents in Austria dealing with the effects of the COVID-19 pandemic on their children. Journal of Family Research. https://doi.org/10.20377/jfr-713 (Open Access).
  • Zartler, U., Dirnberger, P., Dafert, V.,  Harter,  S.,  Schimek, D. (2021):  Corona:  Arbeit  und  Care. Wien: Institut für Soziologie und Arbeiterkammer Wien.
  • Zartler, U., Dafert, V.,  Harter,  S., Dirnberger, P. (2021):  Frauen in Wien und COVID-19. Studie im Auftrag des Frauenservice Wien.

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